Kapitel 5
Das "Zeitalter der Extreme"
Kapitel V Geschichte der Stadt Erfurt (20. Jahrhundert)
Das Zeitalter der Hochindustrialisierung und Urbanisierung hatte in Erfurt bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begonnen und sich um 1900 voll ausgeprägt. Solche pulsierenden Metropolen der Moderne wurden die Hauptschauplätze des "kurzen 20. Jahrhunderts", das mit dem Ersten Weltkrieg 1914/18 seinen Anfang nahm. Jene mit dem britischen Historiker Eric Hobsbawm oft als "Zeitalter der Extreme" umschriebenen Jahrzehnte bis zum Ende des globalen Ost-West-Konfliktes um 1990 waren gekennzeichnet von zwei verheerenden Weltkriegen, von großen sozialen und politischen Umbrüchen, Gewalt, Bürgerkrieg, extremen Ideologien und diktatorischen Staatswesen. All diese Extreme haben auch die Entwicklung der Stadt Erfurt nachhaltig beeinflusst.
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit seiner nationalen Euphorie schien zunächst die tiefe Zerklüftung der Gesellschaft zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft zu überbrücken. Der Kriegsverlauf bestätigte anfangs die Hoffnungen, bestärkt etwa durch das große Kriegsgefangenenlager am Johannesplatz. Doch jener Geist des August 1914 sollte rasch mit den großen Opfern an den Fronten und in der Heimat verfliegen, an die u.a. die zahlreichen Gräber und Ehrenhaine auf dem 1914 eingeweihten Hauptfriedhof erinnern. So kam es schließlich zur Novemberrevolution 1918 in Deutschland, in deren Folge die Monarchie verschwandt und die Republik ausgerufen wurde. In Erfurt hatte sich die Revolution mit der Machtübernahme durch den Arbeiter- und Soldatenrat am 9. November unblutig vollzogen. Bemühungen Erfurts, als Sitz der Nationalversammlung zumindest zeitweise Hauptstadtfunktionen für die neue Republik zu übernehmen, blieben Episode.
Die Zeit der Weimarer Republik 1918-1933 war von zunehmender Radikalisierung der gesellschaftlichen Fronten gekennzeichnet. Schon seit Februar 1919 kam es zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, die im Kapp-Putsch vom März 1920 eskalierten. In jenen Tagen standen sich Bürger, Polizei und Militär auf der einen und organisierte Arbeiter auf der anderen Seite förmlich wie im Krieg gegenüber, was zu acht Todesopfern und vielen z.T. schwer Verletzten führte. Dennoch kam es nach dem "heißen Herbst" 1923 mit Hochinflation und radikalen Putschversuchen (Hitler-Putsch in München) zu einer Phase relativer Beruhigung 1924-1929, die auch zu einem gewissen Aufschwung in Wirtschaft (etwa Büromaschinen in der ehemaligen Gewehrfabrik oder der kurzzeitige Automobilbau mit dem Koco) und Städtebau (Hanse-Viertel und "Gartenstadt"-Siedlungen, Nordpark mit Nordbad 1925/29, Flughafen am Roten Berg 1925, Mitteldeutsche Kampfbahn, das heutige Steigerwaldstadion 1931) führte. Erfurt stieg zu einen Zentrum des Bauens im Bauhaus-Stil und des Expressionismus auf, wofür insbesondere das Angermuseum und der Kunstmäzen Alfred Hess stehen. Mit Margaretha Reichardt stammt zudem eine bekannte Bauhäuslerin aus Erfurt. In dieser Zeit haben sich der liberale Oberbürgermeister Bruno Mann und Regierungspräsident Fritz Tiedemann große Verdienste erworben. Die Vorbehalte in der Bevölkerung gegen Republik und kulturelle Moderne wurden dagegen von rechter Seite etwa durch den Frontsoldatenbund Stahlhelm und Heimatmaler Walter Corsep mobilisiert.
Die relative Beruhigung jener "Goldenen Zwanziger Jahre" wurde jäh beendet von der Weltwirtschaftskrise ab Ende 1929, durch die 1932 jeder dritte Erfurter ohne Arbeit war. Jener Prozess führte zu einer weiteren politischen Polarisierung, die der linksradikalen KPD sowie der rechtsradikalen NSDAP zugute kam. Im Bürgertum, insbesondere im kleinbürgerlichen Mittelstand, führte die totale Krise der späten Republik zu einer förmlichen Flucht in die nationale Volksgemeinschaft des "nationalen Messias" Adolf Hitler, wie sie sich u.a. in den Wahlergebnissen niederschlug. Der reichsweit für Schlagzeilen sorgende Kommunalwahlsieg des skandalumwitterten Antisemiten und Wochenblattherausgebers Adolf Schmalix im November 1929 hatte bereits verdeutlicht, wie weit das Vertrauen der Erfurter in ihre alte konservativ-liberale Honoratiorenschaft und deren Parteien geschwunden war.
Viele Bürger fühlten sich nach dem 30. Januar 1933, dem Beginn der Hitlerschen "Machtergreifung", zunächst in ihrer Option für den Nationalsozialismus bestätigt. Das Einkehren von "Ruhe und Ordnung", der wirtschaftliche Aufschwung mit dem Verschwinden der Arbeitslosigkeit und die außenpolitischen Erfolge taten das ihrige. Der gewaltsamen Zerschlagung der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung trat die Propaganda von der Versöhnung der Geistes- und Handarbeiter, die ideelle Aufwertung des Arbeiterstandes gegenüber. Die neue "Deutsche Arbeitsfront" (DAF) sorgte mit ihrer Organisation "Kraft durch Freude" (KdF) hinfort wesentlich mit dafür, dass der Nationalsozialismus von immer mehr "Volksgenossen" als sozial fortschrittlich empfunden wurde. Zu den bedeutenden Ereignissen jener Zeit gehörte der Deutsche Historikertag 1937.
Die Zeit des Dritten Reiches war von der Umgestaltung nahezu aller Gesellschaftsbereiche gekennzeichnet. Die kommunale Selbstverwaltung fiel bis 1935 schrittweise der "Gleichschaltung" zum Opfer. Von nun an herrschten die NS-Oberbürgermeister, v.a. der berüchtigte Walter Kießling (1936-1945). Die NSDAP versuchte mit ihren "Gliederungen" die Menschen in allen Alters-, Berufs- und Interessengruppen zu erfassen. Trotz des weiteren Ausbaus von Wirtschaft und Garnison in Erfurt bildete Fritz Sauckels Gauhauptstadt Weimar das NS-Machtzentrum. Denn Thüringen blieb zwar formal bis 1945 in das Land Thüringen und den preußischen Regierungsbezirk Erfurt zweigeteilt, doch der NSDAP-Gau umfasste das ganze Gebiet, wodurch Weimar faktisch zur gesamtthüringischen Hauptstadt aufstieg.
Zu den Charakteristika der braunen Diktatur gehörte von Beginn an der Antisemitismus. Die Entrechtung, Verfolgung und Deportation der Juden geschah auch in Erfurt inmitten der Gesellschaft. Im Stadtbild erinnern heute u.a. Denknadeln an die Opfer des Holocaust. Zu ihnen zählen verdienstvolle Bürger wie der Leiter des Städtischen Krankenhauses Alfred Machol. Den vermeintlichen Höhepunkt bildete die "Reichskristallnacht" vom 9. November 1938, der u.a. die Synagoge am Kartäuserring (Juri-Gagarin-Ring) durch Flammen zum Opfer fiel (1952 wurde dort die Neue Synagoge errichtet). Sie war aber nur ein Vorgeschmack auf die "Endlösung der Judenfrage". Wenn auch dieses größte Verbrechen des Nationalsozialismus weit weg in den Vernichtungslagern des Ostens vonstatten ging, war Erfurt doch mittelbar in das Geschehen eingebunden. Die ortsansässige Firma J.A. Topf & Söhne, führendes Unternehmen für Mälzerei-, Speicher- und Feuerungsanlagen, lieferte für die Konzentrationslager vom nahen Buchenwald bis hin zu Auschwitz die Verbrennungsöfen und ihre Ingenieure machten "Verbesserungsvorschläge" für die Gaskammern in Auschwitz.
Im Zweiten Weltkrieg 1939-1945 stärkten zunächst die Anfangserfolge das Prestige des "Führerstaates". Später sorgten die riesigen Opfer an den Fronten und im heimischen Luftkrieg eher für verbitterte Entschlossenheit bis zum Kriegsende, das in Erfurt am 12. April 1945 mit der Besetzung durch US-Truppen erfolgte. Dem vergleichsweise glimpflichen Ausgang der Luftangriffe und Kampfhandlungen, durch den rund 6.500 Bürger der Stadt als Soldaten und Zivilopfer ihr Leben verloren, verdankt Erfurt sein bis heute in weiten Teilen erhaltenes historisches Stadtbild - der Zerstörungsgrad betrug "nur" 5% (im Vergleich: Nordhausen 55%, Jena 15%). Den Luftangriffen fielen rund 1600 Menschen und wertvolle Kulturdenkmale zum Opfer, woran u.a. der Ort der Stille im Augustinerkloster, der Totentanz an der Barfüßerkirche und die Gräber auf dem Hauptfriedhof erinnern.
Am 3. Juli 1945 übernahm die Sowjetarmee entsprechend den Beschlüssen der Konferenz von Jalta (Februar 1945) von den US-Truppen die Stadt. Der mit der Nachkriegszeit einsetzende Aufbau der SED-Diktatur in der SBZ bzw. der 1949 gegründeten DDR mündete zunächst in den Volksaufstand vom 17. Juni 1953, der auch in Erfurt zu heftigen Streiks und Protesten führte. Spätestens mit dem Mauerbau vom August 1961 musste sich die Bevölkerung aber mit ihrer Situation arrangieren. Es entstand für viele Menschen die "heile Welt der Diktatur" (Stefan Wolle), das Leben in privaten oder kollektiven Nischen und beruflicher Pflichterfüllung. Das bedeutendste Ereignis des 20. Jahrhunderts in Erfurt, das erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen Brandt-Stoph 1970 im Erfurter Hof zeigte jedoch eindrucksvoll, wie stark die nationalen Einheitshoffnungen unter den Erfurtern noch ausgeprägt waren. Ihre Rufe "Willy Brandt ans Fenster!" gingen um die ganze Welt.
Im 1945 erstmals im heutigen Gebietsumfang entstandenen Land Thüringen hatte Erfurt ab 1948 die Hauptstadtrolle übernommen. Die Auflösung der Länder in der DDR 1952 setzte dem freilich ein rasches Ende. Doch auch als thüringische Bezirksstadt (neben Gera und Suhl) nahm Erfurt sowohl im wirtschaftlich-infrastrukturellen (Sitz großer Kombinate, internationaler Flughafen, 1972 200.000 Einwohner) wie auch im kulturell-wissenschaftlichen Bereich (1953 Pädagogische Hochschule, 1954 Medizinische Akademie, 1959 Thüringer Zoopark, 1961 iga) eine kontinuierliche Weiterentwicklung. Nachhaltige Impulse setzte auch der DDR-Städtebau. Im Norden und Südwesten (sowie am Juri-Gagarin-Ring) entstanden, 1966 mit dem Johannesplatz beginnend, große Plattenbaugebiete, die das Stadtbild einschneidend veränderten. Weiterführende Pläne der 1960er Jahre, die auch ein Hochhaus auf dem Petersberg und den Abriss großer Teile der Innenstadt vorsahen, wurden nicht umgesetzt. In den 1980er Jahren ließ sich der Niedergang des "real existierenden Sozialismus" nicht mehr übersehen, wie er sich u.a. im Verfall großer Teile der Altstadt - dem sollte mit angepassten Plattenbauten begegntet werden - und in maroden Industrieanlagen zeigte. Mit der friedlichen Revolution vom Herbst 1989, der deutschen Wiedervereinigung und der Wiedergründung des Landes Thüringen 1990 kam für Erfurt das Ende der SED-Diktatur und fand zugleich seine historische Zentralortstellung endgültig ihren formalen Ausdruck. Durch die erste Besetzung einer Stasi-Bezirksverwaltung am 4. Dezember 1989 hatte Erfurt ein DDR-weites Signal gesetzt. Dank der "Wende" konnte auch die 1988 geschlossene Städtepartnerschaft mit Mainz mit Leben erfüllt werden, wobei die Partner aus dem Rheinland besonders in den ersten Jahren wichtige Aufbauhilfe in vielen Bereichen leisteten.
Heute ist Erfurt die Hauptstadt des Freistaates Thüringen, seine moderne Metropole und Verkehrdrehscheibe. Der Wandel von der Industrie- zur Verwaltungs- und Dienstleistungsstadt war fraglos mit schmerzhaften Einschnitten verbunden und sorgte auch für einen erheblichen Bevölkerungsrückgang (von 220.000 auf unter 200.000 Einwohner). Mittlerweile ist dieser Prozess jedoch weitgehend abgeschlossen und konnte nicht zuletzt die Bevölkerungsentwicklung sogar umgekehrt werden (heute: 215.000 Einwohner). Neue Branchen wie die Logistik sorgen für wirtschaftliche Belebung. Ein tragisches Ereignis war der Amoklauf am Gutenberg Gymnasium 2002, das aber nicht über das gute Niveau des Bildungsbereiches im nationalen Vergleich (Pisa-Studien) hinwegtäuschen sollte. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Entwicklungen, die das Gesicht der Stadt deutlich zum Positiven hin verändert haben, wie die Sanierung der Bausubstanz, v.a. der historischen Altstadt, die sich weiter zum Touristenmagneten entwickelt hat, das 2017 eingeweihte ICE-Drehkreuz, der Ausbau des Stadtbahnnetzes sowie des Straßennetzes mit neuem Autobahnkreuz und kompletter Stadtumfahrung, die Modernisierung des Flughafens, der Sitz des Bundesarbeitsgerichtes, mdr-Landesfunkhauses, Kinderkanals KiKA (siehe Bernd das Brot), der Ausbau der Fachhochschule Erfurt und die 1994 auf Initiative der Universitätsgesellschaft erfolgte Wiedergründung der Universität Erfurt u.v.a.m. 2021 wird die traditionsreiche Blumenstadt Ausrichter der Bundesgartenschau sein, wobei der egapark das Herzstück bilden soll. Mit seinem mittelalterlich-jüdischen Erbe ist Erfurt für einen Platz auf der UNESCO-Welterbeliste vorgeschlagen.
> zurück zur Überblicksseite Geschichte der Stadt Erfurt