Geschichte der Stadt Erfurt
Geschichte der Stadt Erfurt
Erfurt ist die alte Metropole Thüringens. Seit jeher geographisch-infrastruktureller Zentralort und "heimliche Hauptstadt", fungiert es - nach kurzem Intermezzo 1949/52 - seit 1990 als Hauptstadt des Bundeslandes (1993 "Freistaates") Thüringen.
Von etwa 1000 an unter weltlicher Herrschaft des Mainzer Erzbischofs, hatte sich der frühe Siedlungsschwerpunkt seit dem 13. Jahrhundert zur autonomen mitteldeutschen Handels- und Kulturmetropole entwickelt. Wichtigstes Handelsgut war das beliebte Blaufärbemittel Waid. 1379 erfolgte die Privilegierung der ältesten Universität im heutigen Deutschland, deren berühmtester Student und Lehrer Martin Luther war. Nach der Reformation bekannte sich eine große Bevölkerungsmehrheit zum Protestantismus. Die jüdische Gemeinde gehörte bis Mitte des 14. Jahrhunderts zu den größten und bedeutendsten in Deutschland. Dem schleichenden Niedergang ab Ende des 15. Jahrhunderts folgte 1664 im Zeitalter des Absolutismus die erneute Unterwerfung unter den Stadtherrn.
Die gut 800-jährige Bindung an Mainz endete 1802 mit dem Übergang an Preußen. Im Königreich der Hohenzollern stieg Erfurt ab Mitte des 19. Jahrhunderts zur modernen Industriegroßstadt und Hochburg der Sozialdemokratie auf, die im Erfurter Programm von 1891 den Namen SPD festschrieb. Gleichzeitg erwarb man sich dank erfolgreicher Gartenbauunternehmen den internationalen Ruf einer Blumenstadt. Im 20. Jahrhundert hatte auch Erfurt die heftigen Spannungen des "Zeitalters der Extreme" samt zweier Weltkriege und Diktaturen zu durchleben.
Mit Erfurt sind über die mehr als zwölf Jahrhunderte schriftlich verbriefter Stadtgeschichte zahlreiche bedeutende historische Persönlichkeiten und Ereignisse vom Wirken des Missionars Bonifatius bis hin zum ersten deutsch-deutschen Gipfeltreffen Brandt-Stoph 1970 im Erfurter Hof verbunden. Im heutigen Stadtbild, in zahlreichen historischen Gebäuden und Monumenten, insbesondere in der großen, weithin erhaltenen Altstadt, schlägt sich die reiche Geschichte Erfurts als "steinerne Chronik" für jeden Betrachter sichtbar nieder. Zugleich verweisen Orte wie das Gelände der ehemaligen Firma Topf & Söhne, Hersteller der Öfen für Auschwitz, aber auch auf die dunklen Kapitel der jüngeren Geschichte.
> Frühgeschichte und Stadtwerdung (30.000 v. Chr. bis 12. Jh.)
> Mittelalterliche Handels- und Kulturmetropole (13. bis 15. Jh.)
> Schleichender Niedergang und kurmainzische Provinz (16. bis 18. Jh.)
> Wiederaufstieg unter Preußen (19. Jh.)
> Das "Zeitalter der Extreme" (20. Jh.)
Wiederaufstieg unter Preußen (19. Jh.)
In Folge der Französischen Revolution seit 1789 und der 1792 beginnenden Koalitionskriege wechselte Erfurt 1802 nach rund 800jähriger Zugehörigkeit zu Mainz seinen Landesherren. Noch bevor der Reichsdeputationshauptschluss 1803 die größeren Fürsten für ihre linksrheinischen Verluste an Frankreich durch die Mediatisierung kleiner Reichsstände und Reichstädte sowie die Säkularisation der meisten geistlichen Fürstentümer entschädigte, kam Erfurt durch einen preußisch-französischen Sondervertrag 1802 zu Preußen. Am 21. August 1802 marschierten preußische Truppen in die Stadt ein und nahmen symbolisch von ihr Besitz.
Mit der preußischen Niederlage gegen Napoleon bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 begann für Erfurt das Zwischenspiel der "Franzosenzeit" 1806-1814. Erfurt erhielt 1807 den Status einer "kaiserlichen Domäne", die direkt Napoleon unterstand. Im September/Oktober 1808 fand auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung der glanzvolle Erfurter Fürstenkongress mit nicht weniger als 34 Kaisern, Königen und Fürsten statt. Hierbei kam es am 2. Oktober 1808 zum denkwürdigen Treffen von Napoleon und Goethe in der Statthalterei. Im Kaisersaal beeindruckte Napoleon seine Gäste mit glanzvollen Theateraufführungen der Comédie-Française. Nach der Niederlage Napoleons in Russland und der Leipziger Völkerschlacht im Oktober 1813 belagerten alliierte Truppen die Stadt und zerstörten bei einem Bombardement u.a. ein Wohnviertel auf dem nördlichen Domplatz sowie das Peterskloster. Nach gut siebenjähriger, zunehmend bedrückender französischer Besatzung zogen am 6. Januar 1814 die alliierten Befreiungsarmeen in die Stadt ein. Mit dem Abzug der Franzosen aus den Festungen Petersberg und Cyriaksburg am 7. Mai 1814 endete für Erfurt die Napoleonische Zeit.
Der Wiener Kongress 1815 sprach Erfurt erneut Preußen zu. Erfurt stieg zur Hauptstadt des gleichnamigen Regierungsbezirks in der neuen Provinz Sachsen mit der Hauptstadt Magdeburg auf. Für Preußen stand die Festung Erfurt an seiner Südgrenze im Mittelpunkt. Die Befestigungsanlagen einschließlich der beiden Citadellen (Petersberg, Cyriaksburg) wurden bis zur Jahrhundertmitte kostspielig ausgebaut. Das militärische Element prägte zunehmend das Stadtbild. Soldaten und Offiziere machten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über ein Zehntel der Gesamtbevölkerung aus.
Die finanziell ruinierte Stadt erhielt erst 1822 ein gewisses Maß an Selbstverwaltung, das Wirtschaftsleben entwickelte sich nur allmählich. Entscheidend für die nach der Jahrhundertmitte beginnende Industrialisierung war der Bau der Thüringer Eisenbahn 1844-47, deren Sitz nach Erfurt gelegt wurde. Sehr für den Eisenbahnanschluss engagiert hatten sich weitsichtige Bürger wie Karl Herrmann. Ab 1850 war die Verbindung von Frankfurt/M. bis Berlin hergestellt. 1869 kam die Strecke Erfurt-Nordhausen und 1883 Erfurt-Sangerhausen hinzu. Nun fasste auch die Metallindustrie in Erfurt Fuß (1847 Eisenbahnreparaturwerkstatt, 1838 Metallfabrik J.A. John, 1862 Königliche Gewehrfabrik im Brühl).
Das wirtschaftlich erstarkte Bürgertum verlangte politische Mitsprache, liberale Grundrechte und einen deutschen Nationalstaat. Die Märzrevolution 1848 und ihre Folgen machten so vor Erfurt nicht halt. Am 24. November 1848 kam es sogar zu schweren Straßenkämpfen zwischen Bürgern und der Garnison auf dem Anger und in der Bahnhofstraße, bei denen 20 Menschen ums Leben kamen. Eine gewisse Fortsetzung der 1848/49 gescheiterten nationalen Einheitsbewegung war das in der Augustinerkirche tagende Erfurter Unionsparlament vom März/April 1850, das im Kompromiss zwischen Liberalen und preußischem König Friedrich Wilhelm IV. die Verfassung für einen "kleindeutschen" Nationalstaat ohne Österreich erarbeiten sollte. Die "Erfurter Union", an der der junge Bismarck als konservativer Abgeordneter teilgenommen hatte, blieb freilich Episode, da sich der preußische König nicht gegen Österreich durchsetzen konnte.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich die Industrialisierung in Erfurt weitgehend durch. Es boomte nun v.a. die Metall- bzw. Schwerindustrie (Hagans, J.A. Topf & Söhne, Henry Pels & Co.) sowie die Textilindustrie (Schuhfabrik Lingel). Die großen Erfurter Gartenbauunternehmen (J.C. Schmidt, Ernst Benary, Haage, F.C. Heinemann, N.L. Chrestensen u.a.) erlangten Weltruf und sorgten für den Beinamen Blumenstadt. Dieser wurde durch regelmäßige internationale Gartenbauausstellungen seit 1865 - gewissermaßen Vorläufer der 1961 eröffneten iga bzw. des heutigen egaparks - gefestigt. Aber auch Banken und Versicherungen (Thuringia) siedelten sich in bisher nicht gekanntem Ausmaß im wirtschaftlichen Herzen Thüringens an. Johann August Röbling, einer der Pioniere der Industrialisierung und späterer Erbauer der Brooklyn Bridge in New York, studierte 1821/23 am mathematischen Institut in Erfurt.
Die "Gründerjahre" nach der Reichseinigung 1871 sorgten endgültig für den Durchbruch zur modernen Industriemetropole, die seit 1872 als kreisfreie Stadt von Oberbürgermeistern geleitet wurde. Wichtig war die Aufhebung der Festungsfunktion 1873. Es erfolgte die Beseitigung der Mauerringe und rasante Vergrößerung des Stadtgebietes. Im Norden und Osten wuchsen v.a. Industrie und Arbeiterwohnsiedlungen, im Süden und Westen gehobenere Wohnquartiere. Daneben entstanden das neue Rathaus (1869/75), der Hauptbahnhof (1892/93), das Kaufhaus "Römischer Kaiser" am Anger (1906, heute "Anger 1"), das Hotel "Erfurter Hof" (1904/05, 1916 erweitert durch "Haus Kossenhaschen"), der Flutgraben (1891-1900) und parallel dazu die breite Ringstraße, der heutige Juri-Gagarin-Ring. 1871-76 wurde der Südfriedhof, 1913-16 der Hauptfriedhof angelegt, 1882 öffnete das neue städtische Krankenhaus in der Nordhäuser Straße, das heutige Klinikum. Daneben wurden Infrastruktur und Trinkwasserversorgung verbessert sowie die Kanalisation eingeführt. Die Stadt erhielt 1883 eine Pferdestraßenbahn, 1894 durch die "Elektrische" ersetzt. Seit den 1890er Jahren erfolgte die repräsentative Umgestaltung der Einkaufsmeilen Anger und Bahnhofstraße.
Das schwindelerregende Wachstum der Stadt wird deutlich, wenn man die 44.000 Einwohner von 1871 mit der 1906 erreichten Zahl von 100.000 vergleicht - Erfurt war nunmehr erste und lange Zeit einzige Großstadt Thüringens. Nach der Eingemeindung Ilversgehofens 1911 zählte die Stadt 1914 schließlich schon 130.000 Einwohner. Sie bot nunmehr das Bild einer spannungsreichen Klassengesellschaft des Industriezeitalters.
Das Bürgertum mit einer exklusiven Honoratiorenschicht an der Spitze beanspruchte eine Führungsstellung, wie sie in der Kommunalpolitik und im Kulturbereich (Vereine, Museen, öffentliches Leben) zum Ausdruck kam. Am Nationalismus der Kaiserzeit orientiert, symbolisiert u.a. im Kriegerdenkmal (1876), Kaiser-Wilhelm-Denkmal (1900), Bismarckturm (1901) und zahlreichen Feierlichkeiten, lehnten sich die Bürger zunehmend an den Staat an. Mit Begeisterung verfolgte man den Aufstieg Deutschlands zur Flotten- und Kolonialmacht, an dem der in Erfurt gebürtige Konsul Wilhelm Knappe, Schöpfer der Erfurter Südseesammlung, seinen Anteil hatte. Zudem hatte sich in Erfurt ein starkes preußisches Landesbewusstsein entwickelt; Preußen glaubte man inmitten der thüringischen Kleinstaatenwelt - bis 1918 drängten sich hier noch acht souveräne Fürstenstaaten (Sachsen-Weimar-Eisenach, -Gotha und Coburg, -Altenburg, -Meinigen; Schwarzburg-Sondershausen, -Rudolstadt; Reuß ä. L./Greiz, Reuß j. L./Gera) - ganz wesentlich den Aufstieg zur modernen Industriemetrolpole zu verdanken.
Große Teile der Arbeiterschaft dagegen strebten unter Führung der Sozialdemokratie nach demokratischer Emanzipation und sozialen Verbesserungen. Nach Beendigung der Bismarckschen Sozialistengesetze (1878-90) fand im Oktober 1891 im Kaisersaal unter Leitung von August Bebel und Wilhelm Liebknecht der Erfurter Parteitag der SPD statt, auf dem das wegweisende Erfurter Programm beschlossen wurde. Die Erfurter SPD nahm wie die Gesamtpartei einen kontinuierlichen Aufschwung und konnte 1912 erstmals das Mandat im Erfurter Reichstagswahlkreis gewinnen. Dem Erfurter Arbeitermilieu der späten Kaiserzeit mit seinen Traditionen wie dem Feiertag des 1. Mai entstammt auch eine der schillerndsten Persönlichkeiten der internationalen Arbeiterbewegung, der "rote Propaganda-Zar" Willi Münzenberg.
Das "Zeitalter der Extreme" (20. Jh.)
Das Zeitalter der Hochindustrialisierung und Urbanisierung hatte in Erfurt also bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begonnen und sich um 1900 voll ausgeprägt. Solche pulsierenden Metropolen der Moderne wurden die Hauptschauplätze des "kurzen 20. Jahrhunderts", das mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 seinen Anfang nahm. Jene mit dem britischen Historiker Eric Hobsbawm oft als "Zeitalter der Extreme" umschriebenen Jahrzehnte bis zum Ende des globalen Ost-West-Konfliktes um 1990 waren gekennzeichnet von zwei verheerenden Weltkriegen, von großen sozialen und politischen Umbrüchen, Gewalt, Bürgerkrieg, extremen Ideologien und diktatorischen Staatswesen. All diese Extreme haben auch die Entwicklung der Stadt Erfurt nachhaltig beeinflusst.
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit seiner nationalen Euphorie schien zunächst die tiefe Zerklüftung der Gesellschaft zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft zu überbrücken. Doch jener "Geist des August 1914" sollte rasch mit den großen Opfern an den Fronten und in der Heimat verfliegen. So kam es schließlich zur Novemberrevolution 1918 in Deutschland, in deren Folge die Monarchie verschwandt und die Republik ausgerufen wurde. In Erfurt hatte sich die Revolution mit der Machtübernahme durch den Arbeiter- und Soldatenrat am 9. November unblutig vollzogen.
Die Zeit der Weimarer Republik 1918-1933 war von zunehmender Radikalisierung der gesellschaftlichen Fronten gekennzeichnet. Schon seit Februar 1919 kam es zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, die im Kapp-Putsch vom März 1920 eskalierten. In jenen Tagen standen sich Bürger, Polizei und Militär auf der einen und organisierte Arbeiter auf der anderen Seite förmlich wie im Krieg gegenüber, was zu acht Todesopfern und vielen z.T. schwer Verletzten führte. Dennoch kam es nach dem "heißen Herbst" 1923 mit Hochinflation und radikalen Putschversuchen (Hitler-Putsch in München) zu einer Phase relativer Beruhigung 1924-1929, die auch zu einem gewissen Aufschwung in Wirtschaft und Städtebau (Hanse-Viertel und "Gartenstadt"-Siedlungen, Nordbad 1925/29, Flughafen am Roten Berg 1925, Mitteldeutsche Kampfbahn, das heutige Steigerwaldstadion 1931) führte. Erfurt stieg zu einen Zentrum des Bauens im Bauhaus-Stil und des Expressionismus auf. In dieser Zeit haben sich der liberale Oberbürgermeister Bruno Mann und Regierungspräsident Fritz Tiedemann große Verdienste erworben. Die Vorbehalte in der Bevölkerung gegen Republik und kulturelle Moderne wurden dagegen von rechter Seite etwa durch den Heimatmaler Walter Corsep mobilisiert.
Die relative Beruhigung jener "Goldenen Zwanziger Jahre" wurde jäh beendet von der Weltwirtschaftskrise ab Ende 1929, durch die 1932 jeder dritte Erfurter ohne Arbeit war. Jener Prozess führte zu einer weiteren politischen Polarisierung, die der linksradikalen KPD sowie der rechtsradikalen NSDAP zugute kam. Im Bürgertum, insbesondere im kleinbürgerlichen Mittelstand, führte die totale Krise der späten Republik zu einer förmlichen Flucht in die nationale Volksgemeinschaft des "nationalen Messias" Adolf Hitler, wie sie sich u.a. in den Wahlergebnissen niederschlug. Der reichsweit für Schlagzeilen sorgende Kommunalwahlsieg des skandalumwitterten Antisemiten und Wochenblattherausgebers Adolf Schmalix im November 1929 hatte bereits verdeutlicht, wie weit das Vertrauen der Erfurter in ihre alte konservativ-liberale Honoratiorenschaft und deren Parteien geschwunden war.
Viele Bürger fühlten sich nach dem 30. Januar 1933, dem Beginn der Hitlerschen "Machtergreifung", zunächst in ihrer Option für den Nationalsozialismus bestätigt. Das Einkehren von "Ruhe und Ordnung", der wirtschaftliche Aufschwung mit dem Verschwinden der Arbeitslosigkeit und die außenpolitischen Erfolge taten das ihrige. Der gewaltsamen Zerschlagung der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung trat die Propaganda von der Versöhnung der Geistes- und Handarbeiter, die ideelle Aufwertung des Arbeiterstandes gegenüber. Die neue "Deutsche Arbeitsfront" (DAF) sorgte mit ihrer Organisation "Kraft durch Freude" (KdF) hinfort wesentlich mit dafür, dass der Nationalsozialismus von immer mehr "Volksgenossen" als sozial fortschrittlich empfunden wurde. Zu den bedeutenden Ereignissen jener Zeit gehörte der Deutsche Historikertag 1937.
Die Zeit des Dritten Reiches war von der Umgestaltung nahezu aller Gesellschaftsbereiche gekennzeichnet. Die kommunale Selbstverwaltung fiel bis 1935 schrittweise der "Gleichschaltung" zum Opfer. Von nun an herrschten die NS-Oberbürgermeister, v.a. der berüchtigte Walter Kießling (1936-1945). Die NSDAP versuchte mit ihren "Gliederungen" die Menschen in allen Alters-, Berufs- und Interessengruppen zu erfassen. Trotz des weiteren Ausbaus von Wirtschaft und Garnison in Erfurt bildete Fritz Sauckels Gauhauptstadt Weimar das NS-Machtzentrum. Denn Thüringen blieb zwar formal bis 1945 in das Land Thüringen und den preußischen Regierungsbezirk Erfurt zweigeteilt, doch der NSDAP-Gau umfasste das ganze Gebiet, wodurch Weimar faktisch zur gesamtthüringischen Hauptstadt aufstieg.
Zu den Charakteristika der braunen Diktatur gehörte von Beginn an der Antisemitismus. Die Entrechtung, Verfolgung und Deportation der Juden geschah auch in Erfurt inmitten der Gesellschaft. Im Stadtbild erinnern heute u.a. Denknadeln an die Opfer des Holocaust. Zu ihnen zählen verdienstvolle Bürger wie der Leiter des Städtischen Krankenhauses Alfred Machol. Den vermeintlichen Höhepunkt bildete die "Reichskristallnacht" vom 9. November 1938, der u.a. die Synagoge am Kartäuserring (Juri-Gagarin-Ring) durch Flammen zum Opfer fiel. Sie war aber nur ein Vorgeschmack auf die "Endlösung der Judenfrage". Wenn auch dieses größte Verbrechen des Nationalsozialismus weit weg in den Vernichtungslagern des Ostens vonstatten ging, war Erfurt doch mittelbar in das Geschehen eingebunden. Die ortsansässige Firma J.A. Topf & Söhne, führendes Unternehmen für Mälzerei-, Speicher- und Feuerungsanlagen, lieferte für die Konzentrationslager vom nahen Buchenwald bis hin zu Auschwitz die Verbrennungsöfen und ihre Ingenieure machten "Verbesserungsvorschläge" für die Gaskammern in Auschwitz.
Im Zweiten Weltkrieg 1939-1945 stärkten zunächst die Anfangserfolge das Prestige des "Führerstaates". Später sorgten die riesigen Opfer an den Fronten und im heimischen Luftkrieg eher für verbitterte Entschlossenheit bis zum Kriegsende, das in Erfurt am 12. April 1945 mit der Besetzung durch US-Truppen erfolgte. Dem vergleichsweise glimpflichen Ausgang der Luftangriffe und Kampfhandlungen, durch den rund 6.500 Bürger der Stadt als Soldaten und Zivilopfer ihr Leben verloren, verdankt Erfurt sein bis heute in weiten Teilen erhaltenes historisches Stadtbild - der Zerstörungsgrad betrug "nur" 5% (im Vergleich: Nordhausen 55%, Jena 15%).
Am 3. Juli 1945 übernahm die Sowjetarmee entsprechend den Beschlüssen der Konferenz von Jalta (Februar 1945) von den US-Truppen die Stadt. Der mit der Nachkriegszeit einsetzende Aufbau der SED-Diktatur in der SBZ bzw. der 1949 gegründeten DDR mündete zunächst in den Volksaufstand vom 17. Juni 1953, der auch in Erfurt zu heftigen Streiks und Protesten führte. Spätestens mit dem Mauerbau vom August 1961 musste sich die Bevölkerung aber mit ihrer Situation arrangieren. Es entstand für viele Menschen die "heile Welt der Diktatur" (Stefan Wolle), das Leben in privaten oder kollektiven Nischen und beruflicher Pflichterfüllung. Das bedeutendste Ereignis des 20. Jahrhunderts in Erfurt, das erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen Brandt-Stoph 1970 im Erfurter Hof zeigte jedoch eindrucksvoll, wie stark die nationalen Einheitshoffnungen unter den Erfurtern noch ausgeprägt waren. Ihre Rufe "Willy Brandt ans Fenster!" gingen um die ganze Welt.
Im 1945 erstmals im heutigen Gebietsumfang entstandenen Land Thüringen hatte Erfurt ab 1948 die Hauptstadtrolle übernommen. Die Auflösung der Länder in der DDR 1952 setzte dem freilich ein rasches Ende. Doch auch als thüringische Bezirksstadt (neben Gera und Suhl) nahm Erfurt sowohl im wirtschaftlich-infrastrukturellen (Sitz großer Kombinate, internationaler Flughafen, 1972 200.000 Einwohner) wie auch im kulturell-wissenschaftlichen Bereich (1953 Pädagogische Hochschule, 1954 Medizinische Akademie, 1959 Thüringer Zoopark, 1961 iga) eine kontinuierliche Weiterentwicklung. Im Norden und Südwesten (sowie am Juri-Gagarin-Ring) entstanden große Plattenbaugebiete, die das Stadtbild einschneidend veränderten. In den 1980er Jahren ließ sich allerdings der Niedergang des "real existierenden Sozialismus" nicht mehr übersehen, wie er sich u.a. im Verfall großer Teile der Altstadt - dem sollte mit angepassten Plattenbauten begegntet werden - und in maroden Industrieanlagen zeigte. Mit der friedlichen Revolution vom Herbst 1989, der deutschen Wiedervereinigung und der Wiedergründung des Landes Thüringen 1990 kam für Erfurt das Ende der SED-Diktatur und fand zugleich seine historische Zentralortstellung endgültig ihren formalen Ausdruck.
Heute ist Erfurt die Hauptstadt des Freistaates Thüringen, seine moderne Metropole und Verkehrdrehscheibe. Der Wandel von der Industrie- zur Verwaltungs- und Dienstleistungsstadt war fraglos mit schmerzhaften Einschnitten verbunden und sorgte auch für einen erheblichen Bevölkerungsrückgang (von 220.000 auf rund 200.000 Einwohner). Mittlerweile ist dieser Prozess jedoch weitgehend abgeschlossen und konnte nicht zuletzt die Bevölkerungsentwicklung sogar umgekehrt werden. Neue Branchen wie die Logistik sorgen für wirtschaftliche Belebung. Ein tragisches Ereignis war der Amoklauf am Gutenberggymnasium 2002, das aber nicht über das gute Niveau des Bildungsbereiches im nationalen Vergleich (Pisa-Studien) hinwegtäuschen sollte. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Entwicklungen, die das Gesicht der Stadt deutlich zum Positiven hin verändert haben, wie die Sanierung der Bausubstanz, v.a. der historischen Altstadt, die sich weiter zum Touristenmagneten entwickelt hat, der Ausbau des Stadtbahnnetzes sowie des Straßennetzes mit neuem Autobahnkreuz und kompletter Stadtumfahrung, der Sitz des Bundesarbeitsgerichtes, mdr-Landesfunkhauses, Kinderkanals Ki-Ka, der Ausbau der Fachhochschule Erfurt und die 1994 auf Initiative der Universitätsgesellschaft erfolgte Wiedergründung der Universität Erfurt u.v.a.m. 2021 wird die traditionsreiche Blumenstadt Ausrichter der Bundesgartenschau sein, wobei der egapark das Herzstück bilden soll. Mit seinem mittelalterlich-jüdischen Erbe strebt Erfurt einen Platz auf der UNESCO-Welterbeliste an.
Literaturtipp:
Steffen Raßloff: Geschichte der Stadt Erfurt. Erfurt 2012.
(Präsentation am 11. September 2012 um 19.00 Uhr im Stadtmuseum Erfurt)