Erfurt im Nationalsozialismus

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Erfurt im Nationalsozialismus

Erfurt durchlebte beispielhaft die NS-Diktatur, blieb aber von weitgehender Zerstörung im Krieg verschont. Da Weimar als NS-Machtzentrum in Thüringen fungierte, kam es auch nicht zu einschneidenden städtebaulichen Veränderungen.


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Der Historiker Hans-Ulrich Thamer hat eines der großen Standardwerke zur Geschichte des Dritten Reiches überschrieben mit "Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945". Er deutet damit auf den wesentlichen Umstand, daß die nationalsozialistische Diktatur keineswegs allein auf Gewalt aufbaute, sondern ebenso auf der Verführung durch die Utopie einer harmonischen nationalen Volksgemeinschaft mit einem charismatischen Führer an der Spitze. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg 1914/18, nach dem Versailler "Schandfrieden" 1919 sowie den Entbehrungen von Wirtschaftskrise und Bürgerkrieg in der Weimarer Republik versprachen sich viele Deutsche hiervon eine bessere Zukunft - und glaubten sie nach der "Machtergreifung" vom 30. Januar 1933 auch lange Zeit tatsächlich verwirklicht.

Das galt in erster Linie für das seit jeher national eingestellte Bürgertum, welches sich insbesondere in seinen breiten Mittelschichten nicht erst mit der Ende 1929 beginnenden Weltwirtschaftskrise sozial massiv bedroht sah. Die ungeliebte Republik und die alten Bürgerparteien schienen in dieser Hinsicht "abgewirtschaftet" zu haben; mit Antimarxismus und Antisemitismus boten die Nationalsozialisten vertraute, zugkräftige Feindbilder, inszenierten sich in zahllosen Saal- und Straßenschlachten gegen die Kommunisten zum "Retter des Bürgertums" und beschworen eindringlich die Rückkehr Deutschlands zu nationaler Größe. So wandte sich v.a. das Kleinbürgertum von seinen liberal-konservativen Parteien der Kaiserzeit über den Zwischenschritt kurzlebiger Interessenparteien ab 1930 in den Wahlen mehrheitlich den "Nazis" zu. Der skurrile "Umweg" über den Vulgärantisemiten und lokalen Wochenblatt-Herausgeber Adolf Schmalix 1929/30 konnte den Siegeszug der NSDAP nur kurzzeitig verzögern. Sie wurde schließlich auch von vielen gutbürgerlichen Honoratioren angesichts des eigenen politischen Basisverlustes als einzige erfolgreiche national-antimarxistische Massenbewegung akzeptiert. Die förmliche Flucht in die nationale Volksgemeinschaft des "nationalen Messias" Adolf Hitler in einer Zeit verzweifelter Heilserwartung war fraglos im Bürgertum am stärksten ausgeprägt.

Trotz aller bleibenden Vorbehalte, etwa gegen das brutal-pöbelhafte Auftreten der SA, die Judenverfolgungen oder den Kirchenkampf, fühlten sich viele Bürger nach 1933 in ihrer Option für die NSDAP bestätigt. Die Errichtung eines "ersehnten Ordnungsstaates [...] in heißer Liebe zu unserem Vaterlande [...] durch einen begnadeten Führer" (Johannes Biereye, 1935) wurde weithin bejaht oder doch zumindest hingenommen. Zudem schienen sich die Nationalsozialisten etwa im "Tag von Potsdam" (21. März 1933) mit der symbolischen Verneigung Hitlers vor dem greisen Generalfeldmarschall und Reichspräsidenten Paul von Hindenburg gezielt in die preußisch-deutsche Tradition einzuordnen. Das Einkehren von "Ruhe und Ordnung", der wirtschaftliche Aufschwung mit dem Verschwinden der Arbeitslosigkeit und die rasanten außenpolitischen Erfolge taten das ihrige: 1935 Rückkehr des Saarlandes und Wiedereinführung der Wehrpflicht, 1936 Besetzung des entmilitarisierten Rheinlands, 1938 Anschluß Österreichs und des Sudetenlandes, 1939 Zerschlagung der "Resttschechei". All dies stärkte den Führer-Mythos ins teilweise Grenzenlose; schon 1934 hieß es in der Erfurter "Mitteldeutschen Zeitung": "Was Bismarck begann, hat Hitler vollendet." Die freilich weit über den herkömmlichen Nationalismus hinausreichenden radikalen Ziele der NS-Bewegung, v.a. die Vernichtung der Juden und die Erlangung der Weltherrschaft - bereits in Hitlers "Mein Kampf" 1925/27 vage formuliert -, wurden von den meisten Bürgern lange nicht wahrgenommen, unterschätzt oder verdrängt.

Das Propagieren eines nationalen Sozialismus durch die Nationalsozialistische Arbeiterpartei wiederum zielte auf die Arbeiterschaft, die in einem eigenen Milieu fest verwurzelt war. Die Wahlergebnisse bis 1933 hatten der neuen braunen Elite in Erfurt deutlich demonstriert, wie gering die Sympathien für sie hier waren. Im Stimmbezirk Salinenstraße beispielsweise, wo viele Arbeiter der nördlichen Industriegebiete wohnten - man sprach damals vom "roten Erfurt-Nord" -, behaupteten KPD und SPD mit weit über 80% bei allen Wahlen ihre beherrschende Stellung. So galt es, gerade diese große Bevölkerungsgruppe erfolgreich mit "Zuckerbrot und Peitsche" in die neue Volksgemeinschaft zu integrieren. Der unmittelbar nach dem 30. Januar 1933 einsetzenden Zerschlagung der KPD-Organisationen, der anschließenden Verfolgung von Sozialdemokraten und Errichtung eines provisorischen Konzentrationslagers in der Feldstraße trat die Propaganda von der Versöhnung der Geistes- und Handarbeiter, die ideelle Aufwertung des Arbeiterstandes, das Versprechen besserer Arbeitsbedingungen und nicht zuletzt die rasche Beschaffung von Arbeitsplätzen in einer Zeit gegenüber, in der jeder dritte Erfurter ohne Anstellung war.

Diese korrespondierenden Machtmechanismen von Verführung und Gewalt wurden bei der Zerschlagung der Freien Gewerkschaften in einem genialen propagandistischen Schachzug angewandt. Zunächst erhob man den 1. Mai 1933 erstmals zum staatlichen Feiertag und beging ihn gemeinsam mit den Gewerkschaften. Damit hatte sich ein alter Traum der Arbeiterbewegung erfüllt. Dass jene vermeintlich von Großkapital und Junkertum finanzierte faschistische Bewegung den 1. Mai zum "Ehrentag der deutschen Arbeit" erklärte, dürfte das Weltbild vieler Arbeiter ins Wanken gebracht haben. Der NS-Organisationsausschuss in Erfurt beschwor sie: "An die Stelle der marxistischen Solidarität der Klassen und des von jüdischen Drahtziehern gestifteten Klassenkampfes und Klassenhasses tritt zum erstenmal in der deutschen Geschichte die Solidarität der Nation. Die ganze Nation wird an diesem Tage marschieren, in innerer, schicksalhafter Verbundenheit."

Und der 1. Mai 1933 sollte zu einem wahrhaft gigantischen Massenereignis werden. Die Betriebe marschierten früh mit ihren Unternehmern an der Spitze (!) zum Domplatz, wo sich an die 50.000 Männer versammelten. Von hier setzten sich schier endlose Kolonnen in Richtung Mitteldeutsche Kampfbahn, das heutige Steigerwaldstadion, in Bewegung. Die mitmarschierenden Gewerkschafter durften hierbei noch auf einen Platz in jener neuen Volksgemeinschaft hoffen, die der Zug verkörpern sollte. Den Höhepunkt des Tages stellte die Rundfunkübertragung der Berliner Maifeier im Stadion dar, wo sich die enorme Zahl von 100.000 Menschen, Erfurt besaß damals 145.000 Einwohner, versammelt hatte. In seiner abendlichen Rede beschwor der "Führer" die Einigkeit der Deutschen über die alten "Klassenzerklüftungen" hinweg. Die Suggestivkraft dieser in einem Fackelzug gipfelnden Veranstaltung spricht aus den Worten der "Thüringer Allgemeinen Zeitung" (TAZ): "Man darf getrost auch sagen, daß fast die ganze Stadt zu dieser Zeit auf den Beinen war und daß Erfurt wohl noch nie eine derartige Kundgebung gesehen hat, an der alle, von den Spitzen der Behörden bis zum einfachen Arbeiter, im einenden Gefühl der Zusammengehörigkeit teilnahmen."

Beeindruckt von den Ereignissen des Tages mag sich selbst mancher Gewerkschafter Illusionen über die eigene Zukunft gemacht haben. Doch schon am Morgen des 2. Mai besetzten Polizei und SA deutschlandweit alle Gewerkschaftshäuser und verhafteten tausende Gewerkschaftsfunktionäre. In Erfurt wurden sie u.a. vom Volkshaus in der Johannesstraße durch die Stadt getrieben und in das Gefängnis auf dem Petersberg verschleppt. Auch diese auf den Bestimmungen der "Reichstagsbrandverordnung" vom 28. Februar 1933 basierenden Gewaltmaßnahmen waren vom Versöhnungsappell an die Arbeiter begleitet. Man versicherte, dass die Gewerkschaften keineswegs abgeschafft, sondern lediglich von ihrer "marxistischen Führung" befreit werden sollten. Zugleich beließ man während der Aktion die Gewerkschaftsangestellten unbehelligt, die in die neue "Deutsche Arbeitsfront" (DAF) überwechseln durften. Jene Einheitsgewerkschaft sorgte mit ihrer Organisation "Kraft durch Freude" (KdF) hinfort wesentlich mit dafür, dass der Nationalsozialismus von immer mehr "Volksgenossen" als sozial fortschrittlich empfunden wurde - hatte es doch bisher ein staatlich organisiertes Freizeit- und Urlaubsprogramm für den "kleinen Mann" bis hin zu Kreuzfahrten auf KdF-Dampfern und der massenwirksamen Sparaktion für den neuen Volkswagen (VW) noch nie gegeben.

Die Zeit des Dritten Reiches war also in Erfurt wie in jeder anderen deutschen Stadt von der teils freiwilligen, propagandistisch geschickt gesteuerten, teils gewaltsamen Umgestaltung nahezu aller Gesellschaftsbereiche gekennzeichnet. Alle Parteien außer der NSDAP wurden 1933 verboten bzw. lösten sich auf; die kommunale Selbstverwaltung, seit Jahrzehnten Domäne der bürgerlichen Honoratioren, fiel bis 1935 schrittweise der "Gleichschaltung" zum Opfer. Von nun an "herrschten", eingeordnet in die rivalisierenden Staats- und Parteihierarchien, die NS-Oberbürgermeister (Theodor Pichier 1933-1935, Max Zeitler 1935/36, Walter Kießling 1936-1945) in ihrem Machtbereich als alleinverantwortliche "städtische Führer". Sie wurden nur noch von ihren Beigeordneten und einem berufenen 23-köpfigen Ratsherrengremium, das die Stadtverordnetenversammlung ersetzte, "beraten". Das vielgestaltige Vereins- und Verbandswesen wurde entsprechend den neuen Verhältnissen verändert und gestrafft. Die in 14 Ortsgruppen unterteilte NSDAP-Kreisleitung Erfurt-Stadt unter Kreisleiter und Regierungspräsident Dr. Otto Weber (1935-1945) versuchte mit ihren "Gliederungen" (Hitler-Jugend, NS Bund Deutscher Technik, NS Kulturgemeinde, NS Lehrerbund usw.) die Menschen in allen Alters-, Berufs- und Interessengruppen zu erfassen.

Als Wirtschafts- und Verwaltungszentrum, als rasant wachsender Militär- und Rüstungsstandort mit zahlreichen Kasernen-Neubauten sowie als einzige Großstadt Thüringens kam Erfurt im Aufbau- und Stabilisierungsprozess des Dritten Reiches erhebliche regionale Bedeutung zu (siehe auch NS-Architektur und Zwangsarbeiter in Erfurt). Darüber hinaus gab es aber kaum Ereignisse oder Einrichtungen, die es aus der "Normalität" der Diktatur herausgehoben hätten. War an eine vergleichbare Bedeutung für das Regime, wie sie die Reichshauptstadt Berlin, die "Hauptstadt der Bewegung" München oder die "Stadt der Reichsparteitage" Nürnberg besaßen, nicht zu denken, so bildete selbst in Thüringen eindeutig Fritz Sauckels Gauhauptstadt Weimar das repräsentativ im NS-Stil ausgebaute Machtzentrum seines Mustergaus. Denn Thüringen blieb zwar formal bis 1945 in das Land Thüringen und den preußischen Regierungsbezirk Erfurt zweigeteilt, doch der maßgebende NSDAP-Gau umfasste das ganze Gebiet, wodurch Weimar faktisch zur gesamtthüringischen Hauptstadt avancierte.

Dementsprechend fanden die meisten Großereignisse in der nahen Klassikerstadt an der Ilm statt, für die zudem Adolf Hitler schon seit den 1920er Jahren eine besondere Vorliebe entwickelt hatte. Hin und wieder ließ der Reichsstatthalter und Gauleiter Fritz Sauckel das ungeliebte Erfurt teilhaben, so etwa beim Thüringer SA-Gautreffen im Juni 1933. Hier waren es wohl v.a. die erwarteten Menschenmassen, die für die wesentlich größere, über entsprechende Kapazitäten verfügende thüringische Metropole sprachen. Stolz vermeldete die TAZ, dass es sich um "den größten SA-Aufmarsch" handelte, "der seit dem Siege der nationalen Erhebung in ganz Deutschland stattgefunden hat". Dieses Ereignis sollte zum absoluten Höhepunkt nationalsozialistischer Machtdemonstration und Massenmobilisierung in Erfurt werden.

Angefangen mit der reichlichen Verdoppelung der Einwohnerzahl an jenem Wochende 17./18. Juni 1933 - "300.000 huldigen Hitler in Erfurt", so die Schlagzeile der TAZ -, was eine beachtliche organisatorische Leistung bedeutete, sind fast alle obligatorischen Elemente zu finden: spektakuläres Einfliegen des "Führers" auf dem 1925 eröffneten Flugplatz am Roten Berg; reibungsloser Aufmarsch von rund 60.000 SA-Leuten durch die Stadt und im zwei Jahre zuvor eingeweihten Stadion; Abnahme der Parade durch Justizminister Frick, Gauleiter Sauckel, Hitler und Ungarns Ministerpräsidenten Gömbös vor der Domkulisse (siehe Abb., Foto: privat); überall jubelnde, begeisterte Menschenmassen; nächtlicher Fackelzug und Feuerwerk; Ehrung des Führers mit Ehrenbürgerwürde und Eintrag ins Goldene Buch der Stadt.

Noch einmal trat Erfurt als Ausrichtungsort des 19. Deutschen Historikertages 1937 hervor. Hierbei wurde von den Teilnehmern der "Sieg der nationalsozialistischen Geschichtswissenschaft" gefeiert. In einer Festschrift versuchte der Volkskundler und Stadthistoriker Prof. Dr. Martin Wähler im Sinne der "völkischen Geschichtsbetrachtung" ein "Charakterbild" des Erfurters auf Grundlage seiner rassischen Abstammung, seines Lebensraumes und seiner historischen Entwicklung zu entwerfen. Die meisten Erfurter Bildungsbürger freilich blieben bei aller grundsätzlichen Bejahung oder Hinnahme des nationalen "Ordnungsstaates" doch spürbar traditionellen Vorstellungen verpflichtet. Der Erfurter Geschichtsverein etwa lehnte 1933 die Übernahme des "Führerprinzips" ab, bestätigte den nicht der NSDAP angehörigen ehemaligen Gymnasialdirektor Prof. Dr. Johannes Biereye als Vorsitzenden und betrieb seine eher konservativen Studien ungebrochen weiter. Und es gab auch individuelle Courage, z.B. das loyale Verhalten Biereyes und Wählers gegenüber dem aus Erfurt stammenden kommunistischen Politiker, Lehrer und Stadthistoriker Dr. Theodor Neubauer (1945 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt). Evangelische Geistliche der Stadt schlossen sich der kritischen "Bekennenden Kirche" an und der katholische Dompropst Joseph Freusberg versteckte 1938 sogar die Thorarollen aus der zerstörten Synagoge.

Allerdings dürften diese durchaus beachtlichen Beharrungskräfte im Bürgertum die NS-Diktatur kaum gefährdet haben. Die tiefverwurzelte Feindschaft gegenüber den Arbeiterparteien ließ es zudem den "linken", v.a. den aktiven Widerstand der Untergrund-KPD ablehnen. Wenn es auch bis zu einem gewissen Grade Zugeständnis an den "Zeitgeist" gewesen sein mag, so bleiben öffentliche Huldigungen seitens hochangesehener Persönlichkeiten wie Biereye an den "begnadeten Führer", der Deutschland von den "roten Spartakus-Horden" befreit habe, doch Ausdruck einer weit verbreiteten Haltung. Diese schloss die Bereitschaft ein, die unübersehbaren Schattenseiten der nationalen Volksgemeinschaft zumindest passiv in Kauf zu nehmen. Dass hierzu auch drohende persönliche und berufliche Einschränkungen und die Einschüchterung durch den Terrorstaat von Gestapo und SS beigetragen haben, steht außer Frage.

Im Zweiten Weltkrieg 1939-1945 fühlten sich viele seit Generationen in nationalem Geiste erzogene Bürger in erster Linie dem Vaterland verpflichtet. Die beeindruckenden Erfolge der "Blitzkriegs"-Phase, gipfelnd im Frankreichfeldzug 1940, stärkten zunächst das Prestige des "Führerstaates". Später sorgten die kaum eine Familie verschonenden Opfer an den Fronten und im heimischen Luftkrieg nicht selten eher für verbitterte Entschlossenheit, was dem Regime ebenso wie die steigende Furcht vor einer Niederlage insbesondere gegen "den Russen" zugute kam. Die Wirkung der geschickten Propaganda des Goebbels-Ministeriums über Presse, Wochenschau und Rundfunk verstärkte all diese Tendenzen bis zum Kriegsende, das in Erfurt de facto am 12. April 1945 mit der Besetzung durch US-Truppen erfolgte.

Zu den zumindest widerstandslos hingenommenen "Schattenseiten" des braunen "Ordnungsstaates" gehörte von Beginn an der Antisemitismus. Die radikale Judenverfolgung der NSDAP wurde keineswegs allgemein begrüßt. Trotz tiefsitzender Vorurteile gerade im Kleinbürgertum gab es durchaus auch Ablehnung, zumal einige Juden bis 1933 zur tonangebenden Honoratiorenschicht (Benary, Heß) gehört hatten. Die schrittweise Entrechtung, Verfolgung und Deportation der Juden geschah dennoch inmitten der Gesellschaft, ohne dass sich breiterer Widerstand gezeigt hätte (siehe Denknadeln, Gedenktafel Humboldt-Schule, Arisierung Mohren-Apotheke). Den vermeintlichen Höhepunkt bildete auch in Erfurt die "Reichskristallnacht" vom 9. November 1938, der u.a. die Synagoge am Kartäuserring (Juri-Gagarin-Ring) durch Flammen zum Opfer fiel. Sie war mit ihren Zerstörungen und Gewalttaten aber tatsächlich nur ein Vorgeschmack auf die "Endlösung der Judenfrage", bei der die "Beseitigung" der jüdischen "Schmarotzer" und "Volksschädlinge" zur unerläßlichen Voraussetzung für eine homogene nationale Gemeinschaft erklärt wurde.

Wenn auch dieses größte Verbrechen des Nationalsozialismus, der industrielle Massenmord an Millionen von politisch und rassisch ausgegrenzten Menschen, weit weg in den Vernichtungslagern des Ostens vonstatten ging, war Erfurt doch zumindest mittelbar in das Geschehen eingebunden. Die ortsansässige Firma J.A. Topf & Söhne, führendes Unternehmen für Mälzerei-, Speicher- und Feuerungsanlagen, lieferte für die Konzentrationslager vom nahen Buchenwald bis hin zu Auschwitz die Verbrennungsöfen und ihre Ingenieure machten darüber hinaus "Verbesserungsvorschläge" für die Gaskammern in Auschwitz - "deutsche Wertarbeit" für den Holocaust. "Topf & Söhne" steht damit für den "ganz normalen", unpolitischen Beitrag von Gesellschaft und Wirtschaft, ohne den die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht möglich gewesen wären.

Dem vergleichsweise glimpflichen Ausgang der Luftangriffe und Kampfhandlungen im Weltkrieg, durch den rund 6.500 Bürger der Stadt als Soldaten und Zivilopfer ihr Leben verloren, verdankt Erfurt sein bis heute in weiten Teilen erhaltenes historisches Stadtbild - der Zerstörungsgrad betrug "nur" 5% (im Vergleich: Nordhausen 55%, Jena 15%). So sind die äußeren Narben von Nationalsozialismus und Krieg nach sechs Jahrzehnten weitgehend verheilt. Die historische Aufarbeitung dieser Zeit aber kann noch lange nicht als abgeschlossen gelten. Gerade das "alltägliche" Aufkommen und Funktionieren der NS-Diktatur auf lokaler Ebene nachvollziehbar zu machen, könnte einen erheblichen Beitrag dazu leisten, den keineswegs ein für allemal gebannten Gefahren totalitärer Verführung und Gewalt vorzubeugen.


Steffen Raßloff: Verführung und Gewalt. Erfurt im Nationalsozialismus. In: Stadt und Geschichte 24 (2004). S. 3-5.


Lesetipps:

Steffen Raßloff: Das Dritte Reich. Erfurt 2007 (3. Auflage 2017).

Steffen Raßloff: Der "Mustergau". Thüringen zur Zeit des Nationalsozialismus. München 2015.


Siehe auch: Geschichte der Stadt Erfurt, Thüringen im Nationalsozialismus, Geschichte des Dritten Reiches, 70 Jahre Kriegsende 1945