Landeshauptstadt Erfurt
Landeshauptstadt Erfurt
"Landeshauptstadt Erfurt" - dieser Namenszug ziert heute alle Schriftstücke der Stadtverwaltung, alle Autokennzeichen und Ortsschilder. Doch die politisch-administrative Stellung Erfurts als Hauptstadt des Bundeslandes (seit 1993 Freistaates) Thüringen ist ebenso jung wie dieses selbst. Nur kurzzeitig, von 1945 bis 1952, existierte vor 1990 überhaupt ein Land, das in etwa dem heutigen entsprach und in dem Erfurt wenige Jahre die Hauptstadtrolle einnahm. Dem Freistaat von 1920, Gründungsjahr des modernen Thüringens, hatte die Stadt noch nicht angehört, doch dazu später mehr.
Erfurt kann also nicht, wie etwa Dresden im benachbarten Sachsen, auf eine lange Geschichte als Kapitale eines der traditionellen föderalen Staatswesen Deutschlands verweisen. Trotzdem war es kein willkürlicher Akt, wenn sich der Landtag in der "Vorläufigen Landessatzung für das Land Thüringen" vom 7. November 1990 für Erfurt als "Regierungssitz" entschied und dies in der Verfassung vom 25. Oktober 1993 endgültig festschrieb (Artikel 44, Absatz 3: "Die Hauptstadt des Landes ist Erfurt."). Denn bis zu den Anfängen in grauer Vorzeit lässt sich, gewissermaßen als roter Faden der Stadtgeschichte, eine vielschichtige, mehrfach sich wandelnde Zentralortstellung Erfurts für den Raum Thüringen zurückverfolgen - und genau dies soll im Folgenden zumindest überblicksartig geschehen.
Der Charakter jener Zentralortstellung korrespondierte mit den politischen, ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen, unter denen sich die (einschließlich der Vorzeit) mehrtausendjährige Geschichte der Stadt abspielte. Zum Zeitpunkt des Einsetzens der schriftlichen Überlieferung Mitte des 8. Jh. noch Bestandteil des Königsgutes, ging Erfurt um 1000 in den weltlichen Besitz des Erzbistums Mainz über. Mitte des 13. Jh. erlangte es weitgehende Autonomie und stand im 15. Jh. als mitteldeutsche Handelsmetropole und weit ausstrahlende Universitätsstadt auf dem Zenit seiner Entwicklung. Nach Jahrzehnten des schleichenden Niedergangs folgte 1664 im Zeitalter des Absolutismus die Unterwerfung unter den kurmainzischen Landesherren, der die Stadt 1802 im Gefolge der französischen Revolutionskriege an Preußen abtreten musste. Von 1802 bis 1945 (mit Unterbrechung der "Franzosenzeit" 1806-1814) spielte sich die Stadtgeschichte im Rahmen des preußischen Staatsverbandes ab.
Trotz dieses Wechsels von Blütezeiten und Phasen der Stagnation sowie trotz der durchgehenden Zugehörigkeit zu landfremden Staatsgebilden zieht sich die charakteristische Stellung als "das Herz Thüringens, also die Mitte der Mitte" (Karl Emil Franzos) durch die Zeiten hindurch. Zuerst zu nennen sind hierbei die bevorzugte Lage und natürliche Beschaffenheit des Stadtgebietes. Sie prädestinierten Erfurt zum Siedlungsschwerpunkt, oder, wie es Martin Luther in seiner bildhaften Sprache formulierte: "Erfurt steht am besten Orte, ist eine Schmalzgrube. Da müßte eine Stadt stehen, wenn sie gleich wegbrennete." Dementsprechend lässt sich seit ca. 30.000 Jahren eine nahezu kontinuierliche Besiedelung belegen. Im Königreich der Thüringer (5./6. Jh.), unter den Franken sowie in den Anfängen der deutschen Geschichte im 9./10. Jh. kann man bereits eine exponierte Stellung erkennen, wobei die Stadt mit der 802 erstmals erwähnten Königspfalz als Austragungsort wichtiger Hoftage sogar über die Region hinauswies.
In diese Zeit geht auch der Aufstieg zum Handelszentrum zurück, greifbar in einem Kapitular Karls des Großen aus dem Jahre 805, das Erfurt zum Grenzhandelsplatz mit den Slawen bestimmte. Später war es v.a. der florierende Handel mit dem Blaufärbemittel Waid, der Reichtum und Macht der mittelalterlichen Kommune begründete. Soweit man zurückblicken kann, war Erfurt so immer auch die größte Stadt Thüringens. Schon der Missionar Bonifatius nennt "Erphesfurt" in einem Schreiben an den Papst aus dem Jahre 742, das die erste urkundliche Erwähnung darstellt, "eine Stadt heidnischer Bauern". Diese hatte er zum Sitz eines Bistums auserkoren, was ihre frühe herausgehobene Position unterstreicht. (Auch wenn das Bistum bald aufgehoben und an Mainz angegliedert wurde, blieb die Stadt weiterhin das religiöse Zentrum Thüringens.) Im Hoch- und Spätmittelalter eine der größten Städte des Reiches überhaupt, wurde Erfurt in der dynamischen Urbanisierungsphase des Zweiten Kaiserreiches die erste und lange Zeit einzige thüringische Großstadt (1906).
Es war jedoch im Mittelalter auch Thüringens kulturelles Zentrum mit zahlreichen Kirchen und Klöstern, mit der ältesten deutschen Universität (1379), dem Wirken bedeutender Theologen, Humanisten und Gelehrter (Meister Eckhart, Johannes Lang, Justus Jonas, Eobanus Hessus, Adam Ries) sowie des Studenten und jungen Augustinermönches Martin Luther, das mehrfach den nationalen Entwicklungen wichtige Impulse verlieh.
Im Bewusstsein der Menschen hielt sich die aus alldem erwachsende Ansicht, dass Erfurt im Gewirr der thüringischen Kleinstaaten und deren beschaulicher Residenzen so etwas wie das "hawbt Thüringer lannds" (Hartmann Schedels "Weltchronik" 1493) sei, die "heimliche" Hauptstadt der Region. (Die kurzzeitigen Ambitionen, im Rahmen der Revolution 1848, des preußischen Unions-Projektes 1850 oder nach Ende des Ersten Weltkrieges 1918/19 zur Reichshauptstadt aufzusteigen, blieben dagegen Episode.) Auch nach dem frühneuzeitlichen Verlust der beherrschenden Handels- und Messeposition, dem Bedeutungsverlust der Universität (1816 geschlossen) sowie der kurmainzischen Reduktion ("Rückführung") von 1664 war in Chroniken, Nachschlagewerken oder auf Landkarten von der "totius Thuringiae metropolis", der Metropole ganz Thüringens, die Rede. Diese Vorstellung blieb bis ins 19. Jh. lebendig, so etwa, wenn 1861 J. C. Kronfeld in seiner "Heimathskunde von Thüringen" von Erfurt als der "alten Hauptstadt Thüringens" spricht; zumal die lokalstolzen Erfurter selbst verstanden sich ausdrücklich als thüringische Hauptstädter, wie man in zahllosen Schriften vom Zeitungsartikel bis zur wissenschaftlichen Publikation lesen konnte.
Zudem wurde tatsächlich immer auch ein erheblicher Teil Thüringens von Erfurt aus beherrscht bzw. verwaltet, sei es das Territorium der autonomen Quasi-Reichsstadt (das "Land Erfurt"), der kurmainzische Länderkomplex oder der 1816 gebildete preußische Regierungsbezirk Erfurt (in der ebenfalls neu geschaffenen Provinz Sachsen mit der Hauptstadt Magdeburg). Der Regierungsbezirk umfasste neben den alten Besitzungen Mainz`, d.h. Erfurt mit Umland sowie dem Eichsfeld, auch vormals kursächsische Besitzungen (Gebiete um Langensalza, Suhl, Schleusingen und Ziegenrück) sowie die früheren Reichsstädte Mühlhausen und Nordhausen. Er stellte damit den deutlich größten Bestandteil Thüringens dar. 1910 lebten hier rund 531.000 Einwohner, im größten der Fürstenstaaten, dem Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, nur rund 417.000.
Symbol dieser ehemaligen partiellen Hauptstadtfunktionen ist das 1711-20 am Hirschgarten errichtete kurmainzische Statthalterpalais (Foto: Dr. Steffen Raßloff). Für drei Jahrzehnte verlieh dort der bedeutendste (und zugleich auch letzte) Statthalter, Karl Theodor von Dalberg (1772-1802), Erfurt so etwas wie Residenzstadtflair. Der spätere Kurfürst, Großherzog von Frankfurt und Fürstprimas des Rheinbundes veranstaltete glänzende Empfänge, zog bedeutende Geister der Zeit, wie Goethe, Schiller, Wieland oder Humboldt, an seinen "Hof", gab der aufklärerischen Akademie wichtige Impulse. Während der französischen Besatzungszeit, in der die strategisch günstig gelegene Festungsstadt Erfurt den einmaligen Status einer "kaiserlichen Domäne" inne hatte, kam es 1808 zum vielzitierten Treffen Goethes mit Napoleon, der hier auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung den Erfurter Fürstenkongress abhielt. (Mit dem "Erfurter Unionsparlament" 1850, dem Erfurter Parteitag der SPD 1891 oder dem deutsch-deutschen Gipfeltreffen 1970 blieb Erfurt auch danach Schauplatz bedeutender nationalhistorischer Ereignisse.) Später wurde die Statthalterei zum "Regierungsgebäude", zum Sitz des preußischen Regierungspräsidenten. So war es nur folgerichtig, wenn das wohl repräsentativste Profangebäude der Stadt 1995 nach aufwändiger Sanierung zur Thüringischen Staatskanzlei aufstieg. Es vertritt damit gewissermaßen den Freistaat im historischen Stadtzentrum, während sich Landtag und Ministerien im "Regierungsviertel" im südlichen Löberfeld angesiedelt haben, das schon nach 1948 kurzzeitig für diesen Zweck in Erwägung gezogen worden war (s.u.).
Doch zurück zur "heimlichen" Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. Seit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 entwickelte sich Erfurt in atemberaubendem Tempo zur modernen Industriemetropole (v.a. Metall- und Schuhindustrie, Gartenbau), zur Verkehrsdrehscheibe, zum Standort grenzübergreifender Institutionen (Bahn, Post, Zoll), Interessenverbände, Unternehmenssitze und Parteizentralen. Das hieraus erwachsende metropolitane Selbstbewusstsein v.a. des Bürgertums verband sich jedoch mit einem festen Bekenntnis zum Königreich der Hohenzollern, das etwa in den emphatischen Huldigungen während des 100. Preußen-Jubiläums von 1902 deutlich hervortrat. Der modernen Großmacht Preußen glaubte man inmitten der buchstäblichen Kleinstaaterei Thüringens den rasanten wirtschaftlichen Aufstieg wesentlich mit zu verdanken.
Nach dem Ersten Weltkrieg rückte die Möglichkeit, reguläre Hauptstadt eines vereinten Thüringens zu werden, erstmals in greifbare Nähe. Mit der Novemberrevolution und der Abdankung der thüringischen Fürsten 1918 war einer der härtesten Widerstände gegen die seit Jahrzehnten diskutierte Flurbereinigung - zuerst hatte die SPD ein Ende des "Kleinstaatenjammers" gefordert - aus dem Wege geräumt. Die nunmehr republikanisch verfassten Kleinstaaten (Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Coburg und Gotha, Sachsen-Meinigen, Sachsen-Altenburg, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sonderhausen, Reuß) entschlossen sich rasch, anfängliche Separationsbestrebungen außer im Falle Coburgs (1920 Anschluss an Bayern) überwindend, zum Zusammenschluss. Doch die Verweigerung Preußens wie auch großer Teile der noch immer proborussischen Bevölkerung gerade in Erfurt verhinderte 1919 die "großthüringische" Lösung, das Verschmelzen mit dem Regierungsbezirk. So wurde Weimar Hauptstadt des am 1. Mai 1920 gegründeten Freistaates Thüringen ("Kleinthüringen"); Erfurt dagegen, das die meisten Teilnehmer der Landesbildungsdiskussionen eigentlich favorisiert hatten, blieb untergeordneter preußischer Verwaltungssitz - trotz unzähliger heftig diskutierter Neuordnungsmodelle der Region im Kontext der Reichsreformpläne der 1920er Jahre (neben "Großthüringen" v.a. auch Pläne eines "Mitteldeutschland" aus den Ländern Thüringen und Anhalt sowie der Provinz Sachsen).
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 rückten derartige Fragen angesichts der Entmachtung der Länder in den Hintergrund. Zudem begann Gauleiter und Reichsstatthalter Fritz Sauckel, die Gauhauptstadt Weimar zum Machtzentrum im monumentalen NS-Stil auszubauen und Preußisch-Thüringen zunehmend seinem Einflussbereich einzugliedern. Hatte schon ein Führererlass 1944 den Regierungsbezirk endgültig Sauckels Zugriff unterworfen, kam es nach dem baldigen Kriegsende 1945 schließlich zur erstmaligen Bildung eines Landes (Groß-)Thüringen einschließlich der preußischen Teile - Preußen war 1945 faktisch und 1947 formell auf Beschluss des Alliierten Kontrollrates aufgelöst worden -, in dem Erfurt schrittweise zwischen 1948 und 1951 die Hauptstadtrolle von Weimar übernahm. Natürlich hatte sich die Stadt sehr hierfür eingesetzt und ihre Argumente 1948 in einer "Denkschrift über die Notwendigkeit, die Stadt Erfurt zur Landeshauptstadt mit dem Sitz der Landesregierung zu machen" selbstbewusst gebündelt: "Durch ihre hervorragende Bedeutung im mitteldeutschen Wirtschafts- und Kulturleben, ihre zentrale Lage im Verkehr, ihre landschaftliche Schönheit, ihren klaren städtebaulichen Charakter und ihren guten Ruf im In- und Ausland ist Erfurt zur ´Thüringischen Landeshauptstadt´ prädestiniert."
Das "Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in der Ländern der Deutschen Demokratischen Republik" vom 23. Juli 1952 setzte diesem kurzen Intermezzo mit der praktischen Auflösung der Länder freilich ein rasches Ende. Doch auch als Bezirksstadt des größten der drei thüringischen Bezirke nahm Erfurt unter den spezifischen Bedingungen der DDR eine kontinuierliche Weiterentwicklung sowohl im wirtschaftlich-infrastrukturellen (Sitz großer Kombinate, internationaler Flughafen, 1972 200.000 Einwohner) wie auch im kulturell-wissenschaftlichen Bereich (Pädagogische Hochschule, Medizinische Akademie, Thüringer Zoopark, iga). Mit der friedlichen Revolution von 1989/90 und der Wiedergründung des Landes Thüringen fand seine historische Zentralortstellung schließlich - nach kurzem, aber heftigem Duell mit Weimar - als nunmehrige "Landeshauptstadt Erfurt" ihren formalen Ausdruck.
Text aktualisiert nach: Steffen Raßloff: "Landeshauptstadt Erfurt". Vom steinzeitlichen Siedlungsschwerpunkt zur modernen Metropole Thüringens. In: Stadt und Geschichte. Zeitschrift für Erfurt 19 (2003). S. 24 f.
Siehe auch: Geschichte der Stadt Erfurt, Geschichte Thüringens