Kapitel 4
Geschichte der Stadt Erfurt
Kapitel IV der Geschichte der Stadt Erfurt:
Napoleonische Zeit und Wiederaufstieg unter Preußen (19. Jh.)
In Folge der Französischen Revolution seit 1789 und der 1792 beginnenden Koalitionskriege wechselte Erfurt 1802 nach rund 800jähriger Zugehörigkeit zu Mainz seinen Landesherren. Noch bevor der Reichsdeputationshauptschluss 1803 die größeren Fürsten für ihre linksrheinischen Verluste an Frankreich durch die Mediatisierung kleiner Reichsstände und Reichstädte sowie die Säkularisation der meisten geistlichen Fürstentümer entschädigte, kam Erfurt durch einen preußisch-französischen Sondervertrag 1802 zu Preußen. Am 21. August 1802 marschierten preußische Truppen in die Stadt ein und nahmen symbolisch von ihr Besitz.
Mit der preußischen Niederlage gegen Napoleon bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 begann für Erfurt das Zwischenspiel der "Franzosenzeit" 1806-1814. Erfurt erhielt 1807 den Status einer "kaiserlichen Domäne", die direkt Napoleon unterstand. Im September/Oktober 1808 fand auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung der glanzvolle Erfurter Fürstenkongress mit nicht weniger als 34 Kaisern, Königen und Fürsten statt. Hierbei kam es am 2. Oktober 1808 zum denkwürdigen Treffen von Napoleon und Goethe in der Statthalterei. Im Kaisersaal beeindruckte Napoleon seine Gäste mit glanzvollen Theateraufführungen der Comédie-Française. Nach der Niederlage Napoleons in Russland und der Leipziger Völkerschlacht im Oktober 1813 belagerten alliierte Truppen die Stadt und zerstörten bei einem Bombardement u.a. ein Wohnviertel auf dem nördlichen Domplatz sowie das Peterskloster. Nach gut siebenjähriger, zunehmend bedrückender französischer Besatzung zogen am 6. Januar 1814 die alliierten Befreiungsarmeen in die Stadt ein. Mit dem Abzug der Franzosen aus den Festungen Petersberg und Cyriaksburg am 7. Mai 1814 endete für Erfurt die Napoleonische Zeit.
Der Wiener Kongress 1815 sprach Erfurt erneut Preußen zu. Erfurt stieg zur Hauptstadt des gleichnamigen Regierungsbezirks in der neuen Provinz Sachsen mit der Hauptstadt Magdeburg auf. Für Preußen stand die Festung Erfurt an seiner Südgrenze im Mittelpunkt. Die Befestigungsanlagen einschließlich der beiden Citadellen (Petersberg, Cyriaksburg) wurden bis zur Jahrhundertmitte kostspielig ausgebaut. Das militärische Element prägte zunehmend das Bild der Garnisonstadt. Soldaten und Offiziere machten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über ein Zehntel der Gesamtbevölkerung aus.
Die finanziell ruinierte Stadt erhielt erst 1822 ein gewisses Maß an Selbstverwaltung, das Wirtschaftsleben entwickelte sich nur allmählich. Entscheidend für die nach der Jahrhundertmitte beginnende Industrialisierung war der Bau der Thüringer Eisenbahn 1844-47, deren Sitz nach Erfurt gelegt wurde. Sehr für den Eisenbahnanschluss engagiert hatten sich weitsichtige Bürger wie Karl Herrmann. Ab 1850 war die Verbindung von Frankfurt/M. bis Berlin hergestellt. 1869 kam die Strecke Erfurt-Nordhausen und 1883 Erfurt-Sangerhausen hinzu. Nun fasste auch die Metallindustrie in Erfurt Fuß (1847 Eisenbahnreparaturwerkstatt, 1838 Metallfabrik J.A. John, 1862 Königliche Gewehrfabrik im Brühl).
Das wirtschaftlich erstarkte Bürgertum verlangte politische Mitsprache, liberale Grundrechte und einen deutschen Nationalstaat. Die Märzrevolution 1848 und ihre Folgen machten so vor Erfurt nicht halt. Am 24. November 1848 kam es sogar zu schweren Straßenkämpfen zwischen Bürgern und der Garnison auf dem Anger und in der Bahnhofstraße, bei denen 20 Menschen ums Leben kamen. Eine gewisse Fortsetzung der 1848/49 gescheiterten nationalen Einheitsbewegung war das in der Augustinerkirche tagende Erfurter Unionsparlament vom März/April 1850, das im Kompromiss zwischen Liberalen und preußischem König Friedrich Wilhelm IV. die Verfassung für einen "kleindeutschen" Nationalstaat ohne Österreich erarbeiten sollte. Die "Erfurter Union", an der der junge Bismarck als konservativer Abgeordneter teilgenommen hatte, blieb freilich Episode, da sich der preußische König nicht gegen Österreich durchsetzen konnte.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich die Industrialisierung in Erfurt weitgehend durch. Es boomte nun v.a. die Metall- bzw. Schwerindustrie (Hagans, J.A. Topf & Söhne, Henry Pels & Co., Preußische Gewehrfabrik) sowie die Textilindustrie (Schuhfabrik Lingel). Die großen Erfurter Gartenbauunternehmen (J.C. Schmidt, Ernst Benary, Haage, F.C. Heinemann, N.L. Chrestensen u.a.) erlangten Weltruf und sorgten für den Beinamen Blumenstadt. Dieser wurde durch regelmäßige internationale Gartenbauausstellungen seit 1865 - gewissermaßen Vorläufer der 1961 eröffneten iga bzw. des heutigen egaparks - gefestigt. Aber auch Banken und Versicherungen (Thuringia) siedelten sich in bisher nicht gekanntem Ausmaß im wirtschaftlichen Herzen Thüringens an. Johann August Röbling, einer der Pioniere der Industrialisierung und späterer Erbauer der Brooklyn Bridge in New York, studierte 1821/23 am mathematischen Institut in Erfurt.
Die "Gründerjahre" nach der Reichseinigung 1871 sorgten endgültig für den Durchbruch zur modernen Industriemetropole, die seit 1872 als kreisfreie Stadt von Oberbürgermeistern geleitet wurde. Wichtig war die Aufhebung der Festungsfunktion 1873 (siehe hierzu das Stadtmodell von 1873 im Stadtmuseum). Es erfolgte die Beseitigung der Mauerringe und rasante Vergrößerung des Stadtgebietes. Im Norden und Osten wuchsen v.a. Industrie und Arbeiterwohnsiedlungen, im Süden und Westen gehobenere Wohnquartiere. Daneben entstanden das neue Rathaus (1869/75), der Hauptbahnhof (1892/93), das Kaufhaus "Römischer Kaiser" am Anger (1906, heute "Anger 1"), das Hotel "Erfurter Hof" (1904/05, 1916 erweitert durch "Haus Kossenhaschen"), der Flutgraben (1891-1900) und parallel dazu die breite Ringstraße, der heutige Juri-Gagarin-Ring. 1871-76 wurde der Südfriedhof, 1913-16 der Hauptfriedhof angelegt, 1882 öffnete das neue städtische Krankenhaus in der Nordhäuser Straße, das heutige Klinikum. Daneben wurden Infrastruktur und Trinkwasserversorgung verbessert sowie die Kanalisation eingeführt. Die Stadt erhielt 1883 eine Pferdestraßenbahn, 1894 durch die Elektrische ersetzt. 1913 wurde die moderne Feuerwache am Ring in Betrieb genommen. Seit den 1890er Jahren erfolgte die repräsentative Umgestaltung der Einkaufsmeilen Anger und Bahnhofstraße.
Das schwindelerregende Wachstum der Stadt wird deutlich, wenn man die 44.000 Einwohner von 1871 mit der 1906 erreichten Zahl von 100.000 vergleicht - Erfurt war nunmehr erste und lange Zeit einzige Großstadt Thüringens. Nach der Eingemeindung Ilversgehofens 1911 zählte die Stadt 1914 schließlich schon 130.000 Einwohner. Sie bot nunmehr das Bild einer spannungsreichen Klassengesellschaft des Industriezeitalters.
Das Bürgertum mit einer exklusiven Honoratiorenschicht an der Spitze beanspruchte eine Führungsstellung, wie sie in der Kommunalpolitik und im Kulturbereich (Vereine, Museen, öffentliches Leben) zum Ausdruck kam. Am Nationalismus der Kaiserzeit orientiert, symbolisiert u.a. im Kriegerdenkmal (1876), Kaiser-Wilhelm-Denkmal (1900), Bismarckturm (1901) und zahlreichen Feierlichkeiten, lehnten sich die Bürger zunehmend an den Staat an. Mit Begeisterung verfolgte man den Aufstieg Deutschlands zur Flotten- und Kolonialmacht, an dem der in Erfurt gebürtige Konsul Wilhelm Knappe, Schöpfer der Erfurter Südseesammlung, seinen Anteil hatte. Zudem hatte sich in Erfurt ein starkes preußisches Landesbewusstsein entwickelt; Preußen glaubte man inmitten der thüringischen Kleinstaatenwelt - bis 1918 drängten sich hier noch acht souveräne Fürstenstaaten (Sachsen-Weimar-Eisenach, -Gotha und Coburg, -Altenburg, -Meinigen; Schwarzburg-Sondershausen, -Rudolstadt; Reuß ä. L./Greiz, Reuß j. L./Gera) - ganz wesentlich den Aufstieg zur modernen Industriemetrolpole zu verdanken.
Große Teile der Arbeiterschaft dagegen strebten unter Führung der Sozialdemokratie nach demokratischer Emanzipation und sozialen Verbesserungen. Nach Beendigung der Bismarckschen Sozialistengesetze (1878-90) fand im Oktober 1891 im Kaisersaal unter Leitung von August Bebel und Wilhelm Liebknecht der Erfurter Parteitag der SPD statt, auf dem das wegweisende Erfurter Programm beschlossen wurde. Die Erfurter SPD nahm unter der Führung von Paul Reißhaus wie die Gesamtpartei einen kontinuierlichen Aufschwung und konnte 1912 erstmals das Mandat im Erfurter Reichstagswahlkreis gewinnen. Dem Erfurter Arbeitermilieu der späten Kaiserzeit mit seinen Traditionen wie dem Feiertag des 1. Mai entstammt auch eine der schillerndsten Persönlichkeiten der internationalen Arbeiterbewegung, der "rote Propaganda-Zar" Willi Münzenberg.
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