Arnold Tiedemann Widerstandskreis

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Arnold-Tiedemann-Widerstandskreis

Arnold und Fritz Tiedemann, Söhne des einstigen liberalen Regierungspräsidenten Fritz Tiedemann, betrieben in der NS-Zeit in Erfurt eine Widerstandsgruppe.


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Vor einiger Zeit berichtete der Autor über einen der letzten preußischen Regierungspräsidenten von Erfurt (1920-1930), den Rechtsanwalt Fritz Tiedemann, der stellvertretend für den recht kleinen Kreis von überzeugten liberalen Demokraten in der Weimarer Republik stehen kann. Dort heißt es abschließend über den bereits 1930 im Alter von 57 Jahren verstorbenen Beamten: "Dieser frühe Tod bewahrte ihn davor, mitzuerleben, wie die von ihm an verantwortlicher Stelle mitgetragene Republik zunehmend ausgehöhlt wurde und schließlich mit dem Stichtag des 30. Januar 1933, der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, schrittweise in der NS-Dikatur unterging."

Blieb dies dem Vater also erspart, begann für die weltoffen-antinazistisch erzogenen Kinder Fritz Tiedemanns 1933 eine bittere Zeit. Zunächst war die Mutter Martha Tiedemann ebenfalls noch im Jahre 1930 ihrem Mann nach schwerer Krankheit gefolgt und die Geschwister Arnold (1913-1941), Hildegard (1918-2003) und Ernst (Klaus) Tiedemann (geb. 1919) zu Vollwaisen geworden (siehe Abb.). Sie lebten fortan unter bescheidenen Umständen, da das Familien-Guthaben dem skandalumwitterten Konkurs des Erfurter Bankhauses Ullmann 1929 zum Opfer gefallen und die persönliche Einrichtung der Dienstwohnung im Regierungsgebäude nach dem Tode der Eltern zu Spottpreisen versteigert worden war. Auch ein dauerhaftes Unterkommen bei Verwandten oder Bekannten blieb ihnen verwehrt. So verbanden sich widrige persönliche Umstände mit den dramatischen äußeren Erscheinungen einer Zeit, die auch in Erfurt von sozialem Elend und politischem Extremismus gekennzeichnet war - Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, Saal- und Straßenschlachten zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten.

Nach der hieraus erwachsenden "Machtergreifung" Hitlers 1933, die sich rasch auch auf die lokale Ebene auswirkte, entwickelte sich insbesondere der ältere Bruder Arnold Tiedemann zu einem entschiedenen Gegner der NS-Diktatur. Anders als sein liberaler Vater hatte sich der junge Intellektuelle und Jura-Student, wie später auch sein Bruder Ernst Absolvent des Erfurter Realgymnasiums "Zur Himmelspforte", jedoch der linken Ideologie zugewandt. Er kam aus der bündischen Jugend der 20er Jahre und teilte mit vielen Vertretern seiner Generation den Hang zu radikalen politischen Anschauungen, da sich die Welt der Väter spätesten seit dem Weltkrieg 1914/18 für sie offenkundig überlebt hatte. Der überzeugte Marxist Tiedemann wurde nunmehr zum führenden Kopf einer Gruppe von jungen Leuten in Erfurt, die sich in ihrer Ablehnung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft einig waren. Das Hauptreservoir bildeten hierbei die Schüler der "Himmelspforte". Den organisatorischen Rahmen wiederum stellte - Ironie der Geschichte - die staatliche NS-Jugendorganisation, die "Hitler-Jugend" (HJ). Arnold Tiedemann sammelte als HJ-Gefolgschaftsführer bei den regelmäßigen Veranstaltungen in Erfurt sowie während der beliebten Zeltlager auf Rügen und in Oberbayern zuverlässig scheinende Charaktere, die er dann vorsichtigt in den Kreis der jungen Regimekritiker einführte.

Schwerpunkt der Treffen war eine meist von Arnold Tiedemann selbst geleitete philosophisch-ideologische Schulung, die die 14- oder 15-jährigen Gymnasiasten oft überfordert hat, wie sich Ernst Tiedemann noch heute deutlich erinnert. Sie hatten neben dem täglichen Schulstoff und dem Agitationsmaterial der HJ nunmehr zusätzlich die Werke Hegels, Feuerbachs, Marx`, Engels und Lenins zu lesen. Als Vorbild bot ihnen ihr Mentor die kommunistische Sowjetunion unter Stalin an, für die sich viele linke Intellektuelle der 1920er und 1930er Jahre in Unkenntnis, Verdrängung oder Hinnahme der dortigen nicht weniger brutalen Verbrechen begeisterten. Hauptziel Arnold Tiedemanns war nach eigener Aussage gegenüber seinem Bruder, die jungen Leute vor dem Gift der NS-Ideologie zu bewahren und ein geistiges Fundament für die Zukunft zu legen. Die Phase höchster Aktivität mit regelmäßigen Zusammenkünften lag in den Jahren von 1933 bis 1935, ehe sich die Wege der meisten Beteiligten äußerer Umstände halber zu trennten begannen; im Weltkrieg brach der unmittelbare Kontakt nahezu völlig ab. Ernst Tiedemann traf seinen im "Generalgouvernement", dem besetzten Polen, als Jurist beschäftigten Bruder nur noch einmal, ehe letzterer 1941 bei einem Bergunfall in der Hohen Tatra ums Leben kam.

Arnold Tiedemann achtete immer auf strikte Konspiration, arbeitete nur in kleinen, auch untereinander nicht bekannten Kreisen; selbst seinem Bruder Ernst waren nur die unmittelbaren Mitglieder seiner Gruppe bekannt: u.a. die Mitschüler Horst Kellermann, Harry Diek und Gerhard Dönitz, ein Verwandter des Großadmirals und Chefs der U-Boot-Waffe Karl Dönitz, sowie Studienreferendar Fridjof Geisel, Bruder der eingeweihten Himmelspforte-Sekretärin Maja Geisel. Der bei Verhaftung eines Mitgliedes oder einer Gruppe drohenden Aufdeckung durch rücksichtslose Verhöre oder gar Folter sollte so vorgebeugt werden - deutliches Zeichen dafür, dass es sich keineswegs nur um spontanes, jugendlich-naives Aufbegehren handelte. V.a. Ernst Tiedemann ist es allerdings auch auch später als Soldat oft schwer gefallen, seine kritische Einstellung zu verbergen; eine entsprechende Bemerkung im Kreise von Offizieren über das gescheiterte Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 etwa hätte ihm bei weniger wohlwollenden Vorgesetzten durchaus den Kopf kosten können. Die offene Haltung gegenüber den jüdischen Familien in Erfurt, zu denen er persönliche Freundschaften unterhielt, war ohnehin bekannt und brachte schon dem Schüler Unannehmlichkeiten ein. Die Tätigkeit der Gruppe(n) um Arnold Tiedemann konnte jedoch zum Glück für alle Beteiligten geheim gehalten werden. Gelegentliche, von jugendlichem Idealismus getragene Gedanken an demonstrative öffentliche Aktionen, an Flugblattverteilungen u.ä. blieben unausgeführt, hätten wohl auch nur nutzlose Opfer unter den Gymnasiasten gefordert.

Angesichts der strengen Geheimhaltung ist es heute nicht mehr möglich, die illegale Tätigkeit Arnold Tiedemanns und seiner Mitstreiter, ihre Antriebe, Methoden, politischen Vorstellungen und Zukunftsentwürfe für ein neues Deutschland nach der NS-Diktatur bis in alle Einzelheiten zu rekonstruieren. Aber die vorhandenen Hinweise reichen aus, um von einem aus dem bildungsbürgerlichen Milieu stammenden, linksintellektuell orientierten Widerstandskreis ohne feste (partei-)politische Bindung zu sprechen. Zielte man auch nicht auf einen aktiven Widerstand im Sinne von offenem Protest oder gar Gewalt gegen das Regime und seine Exponenten, so geht deren mit massiven Gefahren für Leib und Leben verbundenes Verhalten doch weit über private Nichtanpassung hinaus. Die zumindest bei Arnold Tiedemann, dem älteren Kopf der Gruppe, offensichtlich linksideologische Motivation darf angesichts der verbreiteten national-antimarxistischen, wenn auch nicht unbedingt nationalsozialistischen Prägung des Erfurter Bürgertums als ungewöhnlich gelten. Bemerkenswert ist weiterhin, dass seine Aktivität in die Zeit der großen innen- und außenpolitischen Erfolgswelle des Nationalsozialismus fiel und nicht erst wie in vielen anderen Fällen, etwa bei der Münchener "Weißen Rose" um die Geschwister Scholl, durch die Ernüchterungen des II. Weltkrieges hervorgerufen wurde.

Dass es dem Autor möglich war, diesen seltenen Mosaikstein widerständigen Verhaltens im Dritten Reich dem Forschungsbild der Erfurter Stadtgeschichte hinzuzufügen, verdankt er v.a. den Informationen und stichhaltigen Belegen des jüngeren Bruders Ernst Tiedemann. Nach dem Abitur an der "Himmelspforte" 1937 sowie anschließendem Arbeits- und Wehrdienst hatte er im Krieg 1939-1944 ein Medizinstudium in Göttingen und Jena mit abschließender Promotion absolviert. Letzteres wurde freilich durch lange Einsätze als Sanitätssoldat und Truppenarzt an den Fronten in Ost und West immer wieder unterbrochen. Eine kurzzeitige Tätigkeit als Arzt am Städtischen Krankenhaus in Erfurt zwischen Mai und August 1945 musste der Kriegsheimkehrer fluchtartig abbrechen, um einer drohenden Verhaftung als ehemaliger Militärarzt und damit Wehrmachtsoffizier durch die Sowjetischen Besatzungsbehörden zu entgehen. Es sollten für den seiner Heimatstadt dennoch immer tief verbunden bleibenden Erfurter nunmehr Jahrzehnte erfüllter, teils außergewöhlicher Tätigkeit in der Bundesrepublik und in aller Welt folgen.

Der für ein Jahr beurlaubte Amtsarzt durchquerte beispielsweise 1953 als erster Deutscher mit einem VW-Käfer das gesamte Afrika von Kapstadt bis Kairo. Als freigestellter Referent im niedersächsischen Sozialministerium wirkte der ausgebildete Tropenmediziner 1960-1964 als Berater des äthiopischen Gesundheitsministeriums in Addis Abeba, wobei es zu engen Kontakten mit dem damaligen Kaiser Haile Selassie kam. Durch eine in Äthiopien zugezogene schwere Tropenerkrankung musste Tiedemann 1964 in den Ruhestand versetzt werden. Das hielt ihn freilich nicht davon ab, weiterhin u.a. als Berater deutscher Firmen in Afrika oder als Schiffsarzt tätig zu sein. Ausgedehnte Reisen führten den Ruhelosen in nahezu alle Winkel der Erde, was gerade in den 50er und 60er Jahren seiner regen Vortragstätigkeit eine hohe Beachtung einbrachte.

Seit 1968 lebt Dr. Ernst Tiedemann in München, von wo aus er Erfurt in der DDR-Zeit regelmäßig besucht hat. Auch von mancher Schikane besonders pflichtbewußter Vertreter der "Organe" ließ er sich dabei nicht abschrecken. Die politische Wende und Wiedervereinigung 1989/90, die der von den Nationalsozialisten verschuldeten deutschen Teilung ein Ende bereitete, erlebte Tiedemann daher als besonders große Freude - rückte die alte Heimat doch für ihn wie für viele westliche "Exil-Erfurter" wieder sehr viel näher.


Steffen Raßloff: Widerstand in HJ-Uniform. Der Arnold-Tiedemann-Kreis. In: Stadt und Geschichte 24 (2004). S. 14 f.


Siehe auch: Geschichte der Stadt Erfurt, Weimarer Republik, Drittes Reich, Fritz Tiedemann