Alfred Overmann
Alfred Overmann
Stadtarchivar Prof. Dr. Alfred Overmann gehörte zu den wichtigsten Lokalhistorikern und schuf mit seiner "Stadtgeschichte in Bildern" (1929) einen Klassiker.
Anlässlich des 10. Jubiläums der Universitätswiedergründung hat die Universitätsbibliothek im Sommer 2004 in einer Ausstellung "Wissenschaft als Beruf" 13 Wissenschaftler und deren Publikationen präsentiert, die in Bezug zu Erfurt und seiner Universität stehen: Martin Luther, Jodocus Trutfetter, Johann Matthäus Meyfart, Christoph Martin Wieland oder Max Weber, um nur einige der bekanntesten zu nennen. Allerdings handelte es sich dabei nicht nur um eine repräsentative "Ahnengalerie" des Wissenschaftsstandortes Erfurt, sondern es wurde auch die eher wissenschaftsfremde Phase des 19. und 20. Jahrhunderts beleuchtet. Als Vertreter dieser Zeit fand sich Stadtarchivar Prof. Dr. Alfred Overmann (1866-1946), den der Autor im Rahmen der Ausstellung vorstellen durfte.
Overmann lässt sich gewiss nicht auf eine Stufe mit den oben genannten renommierten Wissenschaftlern stellen. Er absolvierte weder eine Universitätslaufbahn, noch gingen von ihm maßgebliche wissenschaftliche Impulse aus. Dennoch wird man Alfred Overmann zu den bemerkenswerten kulturellen Persönlichkeiten der Erfurter Stadtgeschichte rechnen dürfen – verkörpert er doch geradezu idealtypisch den das Geistesleben jener Zeit prägenden honorigen Bildungsbürger. Was ihn dabei besonders auszeichnet, ist die große Vielseitigkeit und die starke Ausstrahlung auf das Kulturleben der Stadt.
Nach dem Studium der Geschichte und Kunstgeschichte in Berlin (1887-1892) führte den gebürtigen Kölner der Berufsweg über die Stationen Köln, Straßburg und Münster 1901 als Archivar nach Erfurt. Das exklusive Gut akademische Bildung spielte aber nicht nur für den Beruf, sondern auch in der Selbst- und Fremdwahrnehmung des Bürgers in Abgrenzung von den klein- und unterbürgerlichen Schichten eine wesentliche Rolle. Umso mehr musste dies für den Stadtarchivdirektor (1901-1932) gelten, der wie die meisten Bildungsbürger längst nicht mehr mit Einkommen und Lebensstil der reichen Wirtschaftsbürger konkurrieren konnte. Um mit den großzügig fürs Gemeinwohl wirkenden Fabrikanten, Bankiers und Gartenbauunternehmern in Sachen öffentliches Prestige Schritt zu halten, bedurfte es vorzeigbarer Verdienste im kulturell-wissenschaftlichen Bereich – Alfred Overmann sollte sich in diesem Sinne ein hohes Ansehen in Erfurt erwerben.
Fraglos ist er dabei meist der Forderung des in Erfurt gebürtigen Soziologen Max Weber, Wissenschaft "nur um der Sache" willen zu betreiben, weitgehend gefolgt, so sehr er den Aufstieg zu einer der wenigen Lichtgestalten in der biederen "Provinz" genossen haben mag. Overmann selbst charakterisierte trotz seines ausgeprägten Lokalpatriotismus das damalige Erfurt als "eine Geschäftsstadt mit vorwiegend materiellen Interessen, an geistigem Leben kaum über das Kleinstadtniveau sich erhebend" ein. Die durchaus beachtlichen Impulse aus Bürgerschaft, Stadtverwaltung, preußischem Staat und altehrwürdiger Akademie gemeinnütziger Wissenschaften (1754), der Overmann seit 1903 angehörte, konnten das Fehlen einer Hochschuleinrichtung – von der kurzlebigen Pädagogischen Akademie 1929/1932 abgesehen – nicht überspielen. Erfurt war zwischen 1816 und 1952/54, zwischen Schließung der Alten Universität und Gründung von Katholischem Seminar (1952), Pädagogischer Hochschule (1953) und Medizinischer Akademie (1954) kein Wissenschaftsstandort im engeren Sinne; Universitätsstadt wurde es gar erst wieder mit der eingangs erwähnten Wiedergründung der Alma mater Erfordiensis im Jahre 1994. Um so heller strahlte vor diesem Hintergrund bald der Stern des neuen Stadtarchivars.
Er schuf über Jahrzehnte mit preußischem Pflichtethos eine tragfähige Basis, auf der noch heute die Archivare, Bibliothekare und Denkmalpfleger der Stadt Erfurt stehen. Mit seinem dreibändigen "Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster" (1926/29/34) und "Die älteren Kunstdenkmäler der Plastik, der Malerei und des Kunstgewerbes der Stadt Erfurt" (1911) leistete er wertvolle Grundlagenarbeit, auch wenn manche seiner Ergebnisse mittlerweile angesichts der neueren Forschung als überholt gelten müssen. Hervor tat sich Overmann zugleich als Stadthistoriker mit zahllosen Publikationen, Vorträgen und seinem Engagement im Geschichtsverein. Sein Klassiker "Erfurt in zwölf Jahrhunderten. Eine Stadtgeschichte in Bildern" (1929) entwickelte sich rasch zum "Hausbuch" des Erfurters und erlebte 1992 sogar eine (allerdings leider unkommentierte) Reprint-Wiederauflage. Von 1901 bis 1912 betreute Overmann im Nebenamt das 1886 gegründete Städtische Museum, dem er erstmals ein klares Profil als ambitioniertes Heimatmuseum gab. Zur ebenfalls nebenamtlichen Leitung der Stadtbibliothek (1901-08) kamen ein Lehrauftrag an der Kunstgewerbeschule (1904-28) sowie diverse ehrenamtliche Aktivitäten im musisch-literarischen Bereich.
Politisch engagierte sich Overmann im Kaiserreich für die Nationalliberale Partei, zu deren zweitem lokalen Vorsitzenden er aufstieg. Nach Erstem Weltkrieg und Novemberrevolution 1918 trat er der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) bei, die sich als bürgerlich-liberale Sammelpartei zur Weimarer Republik bekannte. Das sollte sich nach der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten 1933 als wenig förderlich erweisen, auch wenn Overmann durchaus die nationalistischen, ja in Ansätzen sogar die antisemitischen Vorstellungen der Zeit teilte. Rasch machten sich Einschränkungen bemerkbar, indem er 1933 beispielsweise als Vorsitzender des Literaturvereins zurücktreten musste und ihm fortan die Volkshochschule weitgehend verschlossen blieb. Zu seiner "liberalen Vergangenheit" kam ein weiterer Umstand hinzu: Overmanns jüdische Ehefrau Elisabeth, die ihm vier Kinder geboren hatte. Von beidem sagte er sich schließlich in "tief beschämender" Weise los (Wilhelm Velten), um weiter öffentlich und publizistisch wirken zu können. 1941 verließ Alfred Overmann nach 47 Ehejahren seine Frau, die 1944 deportiert wurde und unter nicht mehr nachvollziehbaren Umständen ums Leben kam. Der 77-jährige verdienstvolle Bildungsbürger geriet so in heute schwer zu beurteilender Vermischung von Opfer- und Täterrolle zum Sinnbild persönlicher Anfechtungen im Nationalsozialismus bzw. in totalitären Regimen überhaupt.
Steffen Raßloff: Der klassische Bildungsbürger. Prof. Dr. Alfred Overmann (1866-1946). In: Stadt und Geschichte 29 (2006). S. 30.
Lesetipp:
Steffen Raßloff: Bürgerkrieg und Goldene Zwanziger. Erfurt in der Weimarer Republik. Erfurt 2008.
Steffen Raßloff: Flucht in die nationale Volksgemeinschaft. Das Erfurter Bürgertum zwischen Kaiserreich und NS-Diktatur. Köln/Weimar/Wien 2003.
Steffen Raßloff: Verführung und Gewalt. Erfurt im Nationalsozialismus. In: Stadt und Geschichte 24 (2004). S. 3-5.
Siehe auch: Geschichte der Stadt Erfurt