Friedliche Revolution und Landesgründung in Thüringen 1989/90

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Friedliche Revolution und Landesgründung in Thüringen

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Im Jahre 2009 kann Deutschland auf 20 Jahre friedliche Revolution und Wiedervereinigung zurück blicken, Schlüsselereignisse am Ende des vielzitierten “Zeitalters der Extreme” (Eric Hobsbawm). Die Ereignisse des Wende-Herbstes 1989 in der DDR und der Prozess der Wiedervereinigung bis zum 3. Oktober 1990 markieren eine tiefe Zäsur in der deutschen Geschichte. Sie bilden den Wendepunkt vom besetzten und geteilten Nachkriegsdeutschland seit 1945 hin zur souveränen, fest in das westlich-europäische Bündnissystem integrierten “Berliner Republik” von heute. Zugleich symbolisieren sie den Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks unter Vorherrschaft der Sowjetunion, ohne den die rasanten Entwicklungen in Deutschland kaum möglich gewesen wären. Damit stehen Wende und Wiedervereinigung auch am Ende der weltweiten Ost-West-Konfrontation.

Mögen die weltpolitischen Rahmenbedingungen eine wichtige Voraussetzung gewesen sein, so war die friedliche Revolution aber doch ganz wesentlich ein Werk der Menschen in der DDR, auf das sie heute stolz zurück blicken können. Für viele stellt das “Wendejahr” 1989/90 einen besonderen, ungeheuer intensiven und emotionalen Lebensabschnitt dar. Erwachter demokratischer Bürgergeist, die Befreiung aus starren Konventionen, Grenzen und Ängsten, ganz neue persönliche Perspektiven, rasante historische Entwicklungen bis hin zur Euphorie des Mauerfalls und der Wiedervereinigung bleiben unvergessen. Für diesen einmaligen historischen Prozess der friedlichen Revolution in der DDR hat sich die Bezeichnung “Wende” im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt. Sie findet sich auch in zahlreichen Fachbüchern, Chroniken und Erinnerungen. Die “Wende” soll deshalb, wissend um die Ursprünge in den Rettungsversuchen führender SED-Genossen unter Egon Krenz, als authentischer zeitgenössischer Begriff mit verwendet werden.

Freilich gingen nicht alle weit gespannten Hoffnungen jener “Wendezeit” in den “neuen” Bundesländern auf. Der Zusammenbruch großer Wirtschaftsbereiche sorgte für Abwanderung und hohe Arbeitslosigkeit, die Übernahme des westdeutschen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems riss die meisten ehemaligen DDR-Bürger aus gewohnten Lebensbahnen. Mancher empfand die neue Freiheit gegenüber der zunehmend “ostalgisch” verklärten “heilen Welt der Diktatur” (Stefan Wolle) als Belastung. So mancher Bürgerbewegte und Wendeaktivist wiederum sah mit dem raschen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Chancen auf eine durchgreifende Erneuerung der Gesellschaft aus eigener Kraft vertan. Auch 20 Jahre nach Wende und Wiedervereinigung lassen sich noch immer Unterschiede in Lebenswelt und Mentalität zwischen Ost und West nicht verleugnen. Um so wichtiger ist es daran zu erinnern, warum und wie die Menschen im Herbst 1989 der SED-Diktatur ein Ende bereiteten und mit überwältigender Mehrheit die Vereinigung der beiden deutschen Staaten auf Basis der freiheitlich-demokratischen, marktwirtschaftlichen Grundordnung der Bundesrepublik begrüßten.

Die drei südwestlichen DDR-Bezirke Erfurt, Gera und Suhl gehörten vor dem Mauerfall am 9. November 1989 nicht zu den wichtigsten Impulsregionen der Wende, wie die weltoffeneren Metropolen Berlin, Leipzig oder Dresden. In den Grenzbezirken herrschten zudem SED-Bezirkssekretäre und MfS-Leiter, die als ausgesprochene Hardliner galten. Dennoch lassen sich die spannenden, ereignisdichten Entwicklungen jener Monate auch hier lebendig nachvollziehen. Nach dem Zusammenbruch der Parteiherrschaft fand Thüringen zudem rasch Anschluss an die allgemeine Entwicklung. Die erste Besetzung einer MfS-Bezirksverwaltung in Erfurt am 4. Dezember 1989 mit DDR-weiter Signalwirkung macht dies deutlich. Von Beginn an hatte sich das Streben nach Freiheit und Einheit auch mit dem Wunsch nach Wiederherstellung eines Landes Thüringen verknüpft, wie es 1952 im Zuge der Bildung von Bezirken in der DDR aufgelöst worden war. Das landsmannschaftliche Selbstbewusstsein der Thüringer war noch immer stark ausgeprägt und gehört als wichtiger Bestandteil mit zur Wendebewegung. Am 3. Oktober 1990 trat auch das Bundesland Thüringen (seit 1993 Freistaat Thüringen) aus den drei Bezirken Erfurt, Gera und Suhl sowie den Kreisen Altenburg, Schmölln und Artern ins Leben.


Steffen Raßloff: Friedliche Revolution und Landesgründung in Thüringen 1989/90 (Schriften der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen). Erfurt 2009 (2. Auflage 2009).