Der Freistaat Thüringen 1990/93: Unterschied zwischen den Versionen

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Text: '''[[Steffen Raßloff]]: Der Freistaat Thüringen 1990/93''' (Thüringen. Blätter zur Landeskunde 83). Erfurt 2010.
Text: '''[[Steffen Rassloff|Steffen Raßloff]]: Der Freistaat Thüringen 1990/93''' (Thüringen. Blätter zur Landeskunde 83). Erfurt 2010.




Literaturtipp:
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'''Steffen Raßloff: [[Friedliche_Revolution_und_Landesgründung_in_Thüringen_1989/90|Friedliche Revolution und Landesgründung in Thüringen 1989/90]]''' (Schriften der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen). Erfurt 2009 (6. Auflage 2015).
'''Steffen Raßloff: [[Friedliche_Revolution_und_Landesgründung_in_Thüringen_1989/90|Friedliche Revolution und Landesgründung in Thüringen 1989/90]]''' (Schriften der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen). Erfurt 2009 (7. Auflage 2022).




Siehe auch: '''[[Geschichte Thüringens]]'''
Siehe auch: '''[[Geschichte Thüringens]]'''

Aktuelle Version vom 27. Oktober 2022, 12:31 Uhr

Der Freistaat Thüringen 1990/93

Thüringenlogo.jpg

Thüringen brachte der Prozess von friedlicher Revolution in der DDR und deutscher Wiedervereinigung auch die Renaissance als politisch-administrative Einheit. 1989/90 stellt damit in der Landesgeschichte einen markanten Wendepunkt dar. Über Jahrhunderte galt die Region zwischen Harz und Thüringer Wald, zwischen Werratal und Pleißenland als “Musterland der Kleinstaaterei”. Allerdings bestand unter den Thüringern das Bewusstsein einer “Einheit in der Vielfalt”, die sich mit dem Königreich der Thüringer aus dem 6. Jahrhundert und der ludowingischen Landgrafschaft Thüringen des 12. und 13. Jahrhunderts auf ältere historische Bezugspunkte berufen konnte. Im 19. Jahrhundert kamen ernsthafte Bestrebungen nach einer Einigung Thüringens auf, die im 20. Jahrhundert schrittweise verwirklicht wurden. 1920 bildete sich aus sieben ehemaligen Herzog- und Fürstentümern der Freistaat Thüringen mit der Hauptstadt Weimar. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 kamen die vormals preußischen Gebiete mit dem Zentralort Erfurt hinzu, das die Hauptstadtrolle übernahm. Im Zuge der Einführung des “demokratischen Zentralismus” in der DDR wurde das Land Thüringen jedoch 1952 bereits wieder aufgelöst. An seine Stelle traten die Bezirke Erfurt, Gera und Suhl.

Den Thüringern sagt man ähnlich wie den Sachsen eine besondere Heimatverbundenheit und tief verwurzelte landsmannschaftliche Identität nach. Schlaglichtartig kam dies während der friedlichen Revolution 1989 zum Ausdruck, als die Wiedergründung eines Landes Thüringen mit zu den ersten Forderungen zählte. Auch die Geschichtswissenschaft betont “das in Thüringen besonders stark ausgeprägte Landesbewusstsein und die hier (wie in Sachsen) am frühesten auftauchende Forderung nach Wiedervereinigung”, so der Historiker Gunther Mai. Wissenschaftliche Umfragen belegen die größte landsmannschaftliche Geschlossenheit der Thüringer unter den Bewohnern der DDR. Offensichtlich hatten es fast vier Jahrzehnte SED-Herrschaft nicht vermocht, sowohl das deutsche Nationalgefühl wie auch die Erinnerung an das 1952 zerschlagene Land Thüringen zu verwischen. Man konnte also 1989/90 an lebendige Vorstellungen und kollektive historische Erinnerungen anknüpfen, die weit in die 1500-jährige Geschichte Thüringens zurück reichen. Diese fest ausgeprägte Identität gab dem 1990 gegründeten Bundesland, das sich seit seiner Verfassungsgebung 1993 Freistaat Thüringen nennt, eine tragfähige Basis.


Der Weg zur Landesgründung 1990

Zu den zentralen Zielstellungen der friedlichen Revolution vom Herbst 1989 in der DDR gehörte neben Demokratisierung, Meinungsfreiheit, Umweltschutz, Reisefreiheit usw. sehr früh die Wiedergründung der 1952 faktisch aufgelösten Länder Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. Das regionale Sonderbewusstsein der DDR-Bürger hatte sich gehalten, während die 15 Bezirke nie eine tiefere identitätsstiftende Kraft entfalten konnten. Als künstliche Konstrukte des SED-Staates galten sie zudem als diskreditiert. Das rasante Voranschreiten der gesellschaftlichen Veränderungen dynamisierte dabei auch die Frage der Ländergründung. Mit dem deutlichen Umschwung der Stimmung von einer Umgestaltung der DDR hin zur Wiedervereinigung Deutschlands nach dem Mauerfall vom 9. November 1989 rückte die Angleichung an die föderalen Strukturen der Bundesrepublik immer deutlicher in den Blickpunkt.

Die DDR-Übergangsregierung unter Hans Modrow (SED) strebte im November 1989 zunächst nur eine Verwaltungsreform auf unterer Ebene an. Der Druck der neuen bzw. von der SED emanzipierten Parteien und Bürger sowie einer sich ausdifferenzierenden Medienlandschaft wurde jedoch immer stärker. Vor diesem Hintergrund nahm am 18. Dezember 1989 eine Regierungskommission “Verwaltungsreform” beim Ministerrat der DDR ihre Arbeit auf. Aufgabe war die Vorbereitung von Gesetzen betreffs der künftigen Länderstruktur. Sie setzte die Arbeit auch nach der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 unter der CDU-geführten Regierung Lothar de Maizière fort. Der Sieg der “Allianz für Deutschland” aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch (48,2 % der Stimmen) hatte ein klares Signal für die zügige Wiedervereinigung gegeben, wobei das Wahlergebnis in Thüringen besonders deutlich ausfiel (Bezirk Erfurt 60,7%, Suhl 60,5 %, Gera 58,8 %). Zielstellung war jetzt ausdrücklich eine “föderative Republik”. In intensiver Arbeit und begleitet von großem öffentlichen Interesse nahmen in der Kommission Formen und Aufgaben der Länder Gestalt an. Nachdem zum 1. Juli bereits die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit der Bundesrepublik in Kraft getreten war, nahm die Volkskammer am 22. Juli 1990 das Ländereinführungsgesetz an. Damit war die rechtliche Grundlage in Abstimmung mit dem Einigungsvertrag geschaffen. Mit Vollzug der deutschen Einheit sollten die Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen auf dem Territorium der DDR ins Leben treten.

In den Diskussionen um die Wiedereinführung des Föderalismus stand trotz zahlreicher Alternativvorschläge die Bildung der fünf 1952 aufgelösten Länder nie ernsthaft in Frage. Lediglich eine Aufteilung von Sachsen-Anhalt wurde zeitweise erwogen. Dass die drei Südwestbezirke den Kern Thüringens ausmachen würden, stand nicht zur Diskussion. Darüber hinaus hielt das Ländereinführungsgesetz vom 22. Juli 1990 schließlich fest: “Unter Beachtung der Ergebnisse der Bürgerbefragungen beantragen [...] die Kreistage von Altenburg, Schmölln und Artern die Kreiszuordnung zu Thüringen.” Besagte Bürgerbefragungen hatten im Kreis Artern (Bezirk Halle) und Kreis Schmölln (Bezirk Leipzig) deutliche Mehrheiten für Thüringen ergeben. Der Kreis Altenburg (Bezirk Leipzig) bildete dagegen neben Senftenberg und Bad Liebenwerda einen Sonderfall, weil der Kreistag hier das Votum der Bürger korrigierte. Zwar stimmten bei geringer Beteiligung (55,3 %) 53,8 % für Sachsen, der Kreistag votierte jedoch mit 38 zu 25 Stimmen für Thüringen. Zahlreiche Gemeinden in den Kreisen Naumburg, Weißenfels, Nebra und Sangerhausen (alle Bezirk Halle), traditioneller thüringischer Kulturraum, sprachen sich ebenfalls für die Angliederung an Thüringen aus, was allerdings nicht in das Ländereinführungsgesetz einfloss. Auch in der Folgezeit blieben die entsprechenden Bemühungen der “Bürgerinitiative Nordthüringen” bis hin zur Anrufung des Bundesverfassungsgerichtes erfolglos. 16 Gemeinden im thüringischen Vogtland durften sich dagegen Sachsen anschließen.

Parallel zu diesen strukturellen und territorialen Entscheidungen auf DDR-Ebene ging die innere Landesgründung in Thüringen voran. Als Übergangsregelung hatte die DDR-Regierung nach Auflösung der Bezirkstage zum 31. Mai 1990 Regierungsbevollmächtigte in den Bezirken eingesetzt. In Thüringen übten diese Funktion Josef Duchač für Erfurt, Peter Lindlau für Gera, Werner Ulbrich für Suhl aus (alle CDU). Im August übernahm der spätere Ministerpräsident Duchač bis zur Konstituierung der ersten Landesregierung das Amt eines Landessprechers mit weitgehenden Befugnissen für die drei Bezirke. Am 16. Mai war statt eines ursprünglich geplanten “Runden Tisches Thüringen” erstmals auf Initiative der CDU der “Politisch-Beratende Ausschuss zur Gründung des Landes Thüringen” zusammen getreten. Entsprechend dem Abschneiden bei den Volkskammer- und Kommunalwahlen waren in diesem Ausschuss elf Parteien und Vereinigungen vertreten. Dieses Gremium hatte für das künftige Landesparlament und die Regierung Empfehlungen zum Aufbau des Bundeslandes Thüringen, seiner Verwaltungsstruktur, Verfassung etc. zu erarbeiten.


Vom Land zum Freistaat Thüringen 1990-1993

Am 3. Oktober 1990 schlug die Geburtsstunde des Bundeslandes Thüringen. Mit dem Beitritt der auf dem Territorium der DDR entstandenen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes wurde die Wiedervereinigung Deutschlands vollzogen. Das aus den drei DDR-Bezirken zusammengefügte Thüringen war jetzt ein gleichberechtigter Teil der föderalen Bundesrepublik. Am 11. Oktober erfolgte die Unterzeichnung der Verträge zur Eingliederung der Kreise Artern, Altenburg und Schmölln durch deren Landräte, womit der im Ländereinführungsgesetz festgelegte Gebietsstand erreicht war. Mit 16.171 km2 Fläche und 2,6 Mio. Einwohnern rangierte Thüringen unter den 16 Ländern der Bundesrepublik an 11. bzw. 10. Stelle.

Die erste Landtagswahl am 14. Oktober sah die CDU als klaren Sieger unter den fünf Parteien, die den Sprung ins Parlament geschafft hatten (CDU 45,4%, SPD 22,8%, PDS 9,7%, FDP 9,3%, Neues Forum/Die Grünen/Demokratie Jetzt 6,5%). Der am 25. Oktober feierlich im Weimarer Nationaltheater konstituierte Landtag wählte am 8. November 1990 Josef Duchač zum Ministerpräsidenten einer CDU-FDP-Koalitionsregierung. (Im Februar 1992 übernahm Bernhard Vogel dieses Amt.) Damit galt die Landesbildung staatsrechtlich als abgeschlossen. Es folgte in den kommenden Monaten und Jahren der Aufbau des parlamentarischen Fundamentes, der Ministerien und einer funktionstüchtigen Landesverwaltung, oft mit Unterstützung aus den “alten” Bundesländern (besonders Hessen und Rheinland-Pfalz). Statt der in Sachsen und Sachsen-Anhalt geschaffenen Zwischeninstanz von Regierungsbezirken nahm das Landesverwaltungsamt im Juni 1991 seine Geschäfte auf. Eine Kreisreform reduzierte 1994 die Anzahl der 1952 von der SED bewusst klein angelegten Landkreise von 35 auf 17. Neben den 17 Landkreisen gibt es in Thüringen sechs kreisfreie Städte mit Erfurt, Eisenach, Gera, Jena, Suhl und Weimar.

Was ebenfalls noch ausstand war die endgültige Beantwortung der Hauptstadtfrage. Schon der Politisch-Beratende Ausschuss hatte sich für Erfurt, die Metropole und traditionelle „heimliche Hauptstadt“ Thüringens ausgesprochen. Auch die neue Regierung nahm hier ihren Sitz. Aber erst die Entscheidung des Landtages über den Parlamentssitz sollte die Frage endgültig klären. Es bewarben sich hierfür Erfurt, Weimar, Jena, Gera und anfangs auch Nordhausen. Der “Wahlkampf” spitzte sich rasch zu auf ein teils heftig ausgefochtenes Duell zwischen Erfurt und Weimar, von 1920 bis 1945 Hauptstadt des “kleinthüringischen” Landes bzw. gesamtthüringischen NSDAP-Gaues. Mit der Abstimmung vom 10. Januar 1991 wurde Erfurt zum Sitz des Thüringer Landtages und zur Landeshauptstadt erklärt. Der Landtag modernisierte und erweiterte den Gebäudekomplex des Erfurter Bezirkstages an der Arnstädter Straße. Dieser war bereits 1949/52 in Ergänzung eines Verwaltungsbaues aus der NS-Zeit für die von Weimar nach Erfurt umziehende Landesregierung und den Landtag errichtet worden. Ebenfalls überwiegend im Süden der Stadt wurden die Ministerien untergebracht. Die Thüringer Staatskanzlei, Amtssitz des Ministerpräsidenten, bekam 1995 mit der ehemaligen kurmainzischen Statthalterei am Hirschgarten ein repräsentatives Domizil im Stadtzentrum.

Ebenfalls am 10. Januar 1991 verabschiedete der Landtag das Gesetz über die Hoheitszeichen Thüringens, die ein wesentliches Element der Eigenstaatlichkeit und Außendarstellung des Landes bilden. Neben den traditionellen Landesfarben Weiß und Rot greift das Wappen mit dem ludowingischen Löwen auf die siebenhundertjährige Tradition der Landgrafschaft Thüringen zurück, verarbeitet aber auch mit heraldischen Mitteln die jüngere Geschichte. Das Wappen zeigt “in Blau einen goldgekrönten und bewehrten, achtfach von Rot und Silber quergestreiften Löwen, umgeben von acht silbernen Sternen” (Peter Heß). Dies symbolisiert die für Thüringen charakteristische „Einheit in der Vielfalt“. Dem Flickenteppich der Staatsgebilde und Verwaltungseinheiten im “Musterland der Kleinstaaterei” stand immer das Bewusstsein einer übergeordneten Einheit gegenüber, die sich insbesondere auf die Landgrafschaft Thüringen berufen konnte. Das Landeswappen umgibt daher den „Thüringer Löwen“ mit acht silbernen Sternen, die für die ehemaligen Kleinstaaten und preußischen Gebiete stehen. Damit unterscheidet es sich vom ähnlichen Landeswappen Hessens, das ebenfalls auf die Tradition der Landgrafschaft Thüringen zurück greift. Aus deren westlichen Teilen war nach dem thüringisch-hessischen Erbfolgekrieg (1247–1264) die Landgrafschaft Hessen hervor gegangen. Der “Hessische Löwe” ist neben anderer Streifung ungekrönt und nicht von Sternen umgeben.

Dem ersten Landtag kam laut Ländereinführungsgesetz auch die Aufgabe der Verabschiedung einer Landesverfassung zu. Ein Verfassungsausschuss bereitete die Gesetzesvorlage vor. In der Zwischenzeit regelte eine Vorläufige Landessatzung die Arbeit von Parlament und Regierung. Die Verfassungsentwürfe der fünf Landtagsfraktionen wurden vom Ausschuss zu einem Entwurf zusammengefasst und ab April 1993 Experten und der Öffentlichkeit zur Diskussion vorgelegt. Hierauf kam es noch zu gewissen Veränderungen, besonders der Bezeichnung des Landes als “Freistaat Thüringen” in Anknüpfung an die Tradition von 1920. In seiner 95. Sitzung am 25. Oktober 1993 verabschiedete der Thüringer Landtag feierlich auf der Wartburg mit Zweidrittelmehrheit der “Verfassungskoalition” aus CDU, SPD und FDP die “Verfassung des Freistaats Thüringen”. Der ausführliche, weit über ein reines Organisationsstatut hinaus gehende Text spiegelt in vielen Passagen die Befindlichkeiten der historischen Situation nach 1989/90 wider und rief etwa wegen der ausführlichen sozialen Staatsziele die Kritik westdeutscher Staatsrechtler hervor. Er war zugleich Ausdruck für den “Stolz auf das neu entstandene Land und die wiedergewonnene Eigenständigkeit im föderalen Gefüge Deutschlands” (Christine Lieberknecht). Endgültig in Kraft trat die Verfassung mit der Volksabstimmung (70,1% für die Verfassung) parallel zur zweiten Landtagswahl am 16. Oktober 1994. Thüringen, wo 1816 im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach die erste Verfassung im Deutschen Bund und 1919 in Weimar die Verfassung der ersten deutschen Republik gegeben worden waren, bekam damit nach einem besonders intensiven Prozess als letztes “neues” Bundesland eine Verfassung. Der Landesbildungsprozess konnte als abgeschlossen gelten.


Thüringen seit 1990/93

Nach den ersten demokratischen Wahlen 1990 kam es trotz durchgehend CDU-geführter Landesregierungen zu markanten Veränderungen im politischen Gefüge des neuen Bundeslandes. Bei der Bundestagswahl im Oktober 1994 erreichten bei klarem “Linksruck” nur noch CDU (41,0%), SPD (30,2%) und PDS (17,2%) Ergebnisse jenseits der 5-Prozent-Hürde. Im Thüringer Landtag befanden sich seither nur noch Fraktionen dieser drei Parteien bei stetigem Aufstieg der PDS/Die Linke (Wahl 1994: CDU 42,6%, SPD 29,6%, PDS 16,6%; Wahl 1999: CDU 51,0%, PDS 21,3%, SPD 18,5%; Wahl 2004: CDU 43,0%, PDS 26,1%, SPD 14,5%). Nach der CDU-FDP-Koalition seit 1990 regierte von 1994 bis 1999 eine Große Koalition aus CDU und SPD, von 1999 bis 2009 standen CDU-Alleinregierungen an der Spitze des Landes. Das Amt des Ministerpräsidenten bekleidete von 1992 bis 2003 Bernhard Vogel, von 2003 bis 2009 stand Dieter Althaus der Landesregierung vor. Nach der schweren Wahlniederlage 2009 (CDU 31,2%, Linke 27,4%, SPD 18,5%, FDP 7,6%, Grüne 6,2%) trat Althaus zurück und machte Platz für eine CDU-SPD Koalition mit Christine Lieberknecht (CDU) an der Spitze.

Die ökonomische und soziale Entwicklung nach 1990 wurde in starkem Maße von den Problemen der zusammen brechenden DDR-Planwirtschaft geprägt. Viele Städte und Regionen, die sich seit dem 19. Jahrhundert zu traditionsreichen Industriestandorten entwickelt hatten, erlitten einen durchgreifenden Prozess der Deindustrialisierung. Ganze Wirtschaftsbereiche wie etwa der Kalibergbau im Norden und Südwesten Thüringens gingen fast vollständig unter. Daran konnten auch Aktionen wie Besetzung und Hungerstreik im Kaliwerk Bischofferode 1993, die unter dem Motto “Bischofferode ist überall” für großes Aufsehen gesorgt hatten, nichts ändern. Leistungsfähige industrielle Kerne, wie die optische Industrie in Jena, der Automobilbau in Eisenach oder die Zukunftstechnologien (Solar, Mikroelektronik, Biotechnologie) im Dreieck Jena-Erfurt-Ilmenau, und neue mittelständische Unternehmen konnten den massenhaften Arbeitsplatzverlust quantitativ nicht ausgleichen. So beschäftigte das 1991 geschlossene Automobilwerk Eisenach (AWE), Hersteller des PKW “Wartburg”, vor der Wende fast 10 000 Mitarbeiter, im 1992 eröffneten neuen Werk von Opel sind es rund 1800. Bis auf wenige Ausnahmen, wie die 1991 aus dem VEB Kombinat Carl Zeiss hervorgegangene Jenoptik AG in Jena, sind keine Zentralen großer Unternehmen oder Konzerne in Thüringen ansässig.

In ihrer Bedeutung gestiegenen sind demgegenüber der Dienstleistungssektor und der vor 1990 ebenfalls staatlich gelenkte Tourismus. Besonders der Städte- und Kulturtourismus und Reisen in die landschaftlich reizvollen Regionen wie den Thüringer Wald mit dem von Herbert Roth in der “heimlichen Landeshymne” besungenen Höhenweg Rennsteig sind zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden. Trotz Personalabbaus spielen auch der öffentliche Dienst und die dichte Hochschullandschaft mit der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Universität Erfurt, Bauhaus-Universität Weimar, Technischen Universität Ilmenau, Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar sowie den Fachhochschulen Nordhausen, Erfurt, Jena, Schmalkalden eine wichtige Rolle. Die Landwirtschaft mit einer Reihe größerer und mittlerer Unternehmen, die oft aus ehemaligen LPG hervor gegangen sind, und spezialisierten Kleinbetrieben konnte sich zusammen mit der Lebensmittelindustrie relativ erfolgreich auf dem Markt behaupten. Sie liefern auch zwei der bekanntesten Markenzeichen des Landes, den Thüringer Kloß und die Thüringer Rostbratwurst, die eine nicht unerhebliche Rolle für Selbstverständnis und Marketing des Freistaates Thüringen spielen.

Wichtige Weichen für die Zukunft wurden mit den Verkehrsprojekten Deutsche Einheit und dem Ausbau des 1989 überwiegend maroden regionalen Verkehrsnetzes gestellt. Damit konnte die wiedergewonnene Mittellage Thüringens in Deutschland und Europa als natürlicher Standortvorteil auch infrastrukturell untermauert werden. Neben dem Ausbau der Autobahnen A 4 (Frankfurt/M.-Dresden) und A 9 (Berlin-München) und der neuen “Südharzautobahn” A 38 (Göttingen-Halle/S.) entstand mit der A 71/73 (Sangerhausen-Schweinfurt/Coburg) eine völlig neue Trasse in Nord-Süd-Richtung durch das thüringische Kernland. Besonders der Abschnitt südlich des Erfurter Kreuzes (“Thüringer-Wald-Autobahn”) stellt u.a. mit dem längsten Straßentunnel Deutschlands, dem 7916 Meter langen Rennsteigtunnel, ein ingenieurtechnisches Meisterwerk dar. Bis 2016 soll auch als wichtigstes Schienenprojekt die ICE-Verbindung Berlin-München über Erfurt als Teil eines europäischen Schnellstreckennetzes fertig gestellt werden. In der Landeshauptstadt Erfurt und in Altenburg wurden bestehende Anlagen zu modernen Flughäfen ausgebaut.

Trotz dieser positiven Ansätze bewegte sich auf Grund des Verlustes großer Teile der gewachsenen Wirtschaftsstrukturen insbesondere im industriellen Bereich das Bruttoinlandsprodukt in Thüringen 2009 nur bei ca. 75 Prozent des Bundesdurchschnittes. Auch lag die Arbeitslosenquote im Mai 2009 mit 11,8 Prozent nach wie vor deutlich über dem Bundesdurchschnitt von 8,2 Prozent bzw. dem Durchschnitt der “alten” Länder von 6,9 Prozent. Parallel hierzu hatte unmittelbar mit dem Mauerfall vom 9. November 1989 ein Abwanderungsprozess in die Bundesrepublik bzw. die “alten” Bundesländer eingesetzt. Besonders junge, gut ausgebildete Menschen wurden von den besseren Arbeits- und Lebensbedingungen im “Westen” angezogen. Verstärkt durch drastischen Geburtenrückgang und weitere demographische Faktoren ging die Einwohnerzahl auf dem Territorium des heutigen Freistaates von gut 2,7 Millionen (1988) auf 2,2 Millionen (2008) zurück. Prognosen kündigen einen weiteren Bevölkerungsrückgang und Anstieg des Altersdurchschnittes an, was besonders die strukturschwachen und ländlichen Regionen treffen wird.

Bei all diesen Problemen scheint der Freistaat Thüringen dennoch im Vergleich der 16 Bundesländer gut aufgestellt, wurde seit der deutschen Einheit viel erreicht. Schon auf den ersten Blick machen dies die sanierten historischen Städte und Gemeinden, die wirtschaftlichen “Leuchttürme” oder die moderne Infrastruktur deutlich. In mancher Hinsicht rangiert Thüringen zumal unter den “neuen” Ländern mit ganz vorn. Der Freistaat kann sich auf eine Reihe von Standortvorteilen und Markenzeichen stützen. Hieraus ergibt sich eine Mischung, die den Menschen Hoffnung für die Zukunft gibt. In “Deutschlands starker Mitte”, so ein Marketingslogan des Freistaates, bündeln sich nicht nur wichtige europäische Verkehrwege. Hier verbinden sich eine von den UNESCO-Welterbestätten Weimar und Wartburg überragte, einmalig dichte Geschichts- und Kulturlandschaft mit den natürlichen Reizen des “grünen Herzen Deutschlands”, mit der “Denkfabrik Thüringen”, mit Zukunftstechnologien und moderner Hochsschullandschaft.


Text: Steffen Raßloff: Der Freistaat Thüringen 1990/93 (Thüringen. Blätter zur Landeskunde 83). Erfurt 2010.


Literaturtipp:

Steffen Raßloff: Friedliche Revolution und Landesgründung in Thüringen 1989/90 (Schriften der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen). Erfurt 2009 (7. Auflage 2022).


Siehe auch: Geschichte Thüringens