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Version vom 1. Februar 2021, 08:32 Uhr
Metropolis Thuringiae
Das Handels- und Kulturzentrum Erfurt war im Mittelalter die "Metropolis Thuringiae" und eine der größten Städte des Reiches.
Im Jahre 1493 bezeichnete Hartmann Schedel in seiner berühmten „Weltchronik“ Erfurt als das „Haupt des Thüringer Landes“. Die vielgepriesene „Metropolis Thuringiae“, die „Metropole Thüringens“, gehörte darüber hinaus im Spätmittelalter zu den größten Städten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Begünstigt von der Natur und der Lage an wichtigen Fernstraßen blühten Handel und Gewerbe. Martin Luther formulierte es so: „Erfurt steht am besten Orte, ist eine Schmalzgrube. Da müsste eine Stadt stehen, wenn sie gleich wegbrennete.“ Beeindruckende Bauwerke und ein reiches Kulturleben strahlten weithin aus. Die Universität Erfurt gehörte zu den führenden Hochschulen Mitteleuropas und gilt mit ihrem Gründungsprivileg von 1379 als die älteste im heutigen Deutschland. Weit von der Residenz ihres Landesherrn, des Erzbischofs von Mainz, entfernt gelegen, konnte die Bürgerschaft seit Mitte des 13. Jahrhunderts reichsstadtähnliche Autonomie erringen. In dieser pulsierenden Metropole sammelte der junge Luther prägende Eindrücke für sein späteres reformatorisches Wirken. Ab 1517 sollte die Reformation hier unter mehrfachem persönlichem Eingreifen Luthers auf fruchtbaren Boden fallen.
Erfurt ragte als urbanes Zentrum aus einer vielgestaltigen politischen Landschaft im spätmittelalterlichen Thüringen heraus. Hatte das Hochmittelalter ganz im Zeichen der ludowingischen Landgrafen gestanden, so rückten an ihre Stelle nicht nur als Nachfolger im Landgrafenamt 1247/64 die Wettiner. Die Markgrafen von Meißen bauten einen mächtigen, teils weit über das heutige Sachsen, Thüringen und südliche Sachsen-Anhalt hinausreichenden Länderkomplex auf. 1423 wurden sie sogar durch die Belehnung mit dem Herzogtum Sachsen-Wittenberg in den Kurfürstenstand erhoben. Auch in Thüringen konnten die Wettiner ihre Besitzungen massiv erweitern und sich als stärkste Kraft etablieren. Erfurt war fast vollständig von wettinischem Territorium umgeben, die benachbarten Städte Gotha und Weimar gehörten zu deren bevorzugten Residenzen. Gleichzeitig hielt sich aber auch, anders als in Sachsen, ein dichtes Netz konkurrierender Herrschaften, wie der Grafen von Schwarzburg und Reuß, der Reichsstädte Mühlhausen und Nordhausen sowie der autonomen Stadt Erfurt, deren kurmainzischer Landesherr mit dem Eichsfeld ebenfalls feste Positionen besaß.
Erfordia turrita: Die spätmittelalterliche Metropole
Der alte Zentralort Erfurt ragte also im spätmittelalterlichen Thüringen als Handels- und Kulturmetropole von reichsweiter Bedeutung deutlich heraus. Aber bis zurück ins 8. Jahrhundert lässt sich aus den Schriftquellen deren exponierte Stellung ablesen. Der Aufstieg zum Handelszentrum wird greifbar in einem Kapitular Karls des Großen aus dem Jahre 805, das Erfurt zum Grenzhandelsplatz mit den Slawen bestimmte. Soweit man zurückblicken kann, war Erfurt so immer auch die größte Stadt Thüringens. Der Missionar Bonifatius nennt „Erphesfurt“ in einem Schreiben an den Papst aus dem Jahre 742, das die erste urkundliche Erwähnung darstellt, bereits „eine Stadt heidnischer Bauern“. Diese hatte er zum Sitz eines Bistums auserkoren, was die herausgehobene Position unterstreicht. Auch wenn das Bistum bald aufgehoben und an Mainz angegliedert wurde, blieb die Stadt weiterhin das religiöse Zentrum Thüringens.
Die Bürgerschaft mit einem Rat an der Spitze konnte seit der Mitte des 13. Jahrhunderts dem Mainzer Erzbischof, seit etwa 1000 auch weltlicher Landesherr, weitgehende Autonomie abringen. Machtzentrum und Repräsentationsort war das Rathaus am Fischmarkt mit seiner wertvollen Ausstattung: Ratssilber, Setzschilde, Rundbilder, Glasfenster, die große Armbrust u.v.a. (> zu sehen im Stadtmuseum Erfurt) Mit eigenen Truppen und einem großen Landgebiet von 83 Dörfern und Burgen sowie der Stadt Sömmerda bildete das “Land Erfurt” einen wichtigen Machtfaktor. Zusammen mit den Reichsstädten Mühlhausen und Nordhausen sicherte man diese Position zusätzlich im Thüringer Städtebund (1304-1469) ab. Dank des Reichslehens Wasserburg Kapellendorf (1352) kam Erfurt sogar dem Status einer Reichsstadt sehr nahe, ohne die kurmainzische Landeshoheit formal abzustreifen. Das zeigt sich auch in den zahlreichen Hof- und Reichstagen sowie wichtigen Ereignissen der Reichsgeschichte. So erfolgte 1181 in der Kirche des Petersklosters die Unterwerfung Heinrichs des Löwen unter Kaiser Friedrich I. Barbarossa, der von hier aus die Kämpfe gegen den Welfen geleitet hatte. 1289/90 führte König Rudolf von Habsburg lange die Reichsgeschäfte von Erfurt aus und stellte dabei mit Unterstützung der Bürgerschaft den Landfrieden gegen das Raubritterunwesen wieder her.
Grundlage dieser starken Position waren Handel und Messe am Kreuzungspunkt wichtiger Fernstraßen, insbesondere der west-östlichen Via regia, der Königs- oder Hohen Straße. Wichtigstes Handelsgut bildete das begehrte Blaufärbemittel Waid. Die von zwei Mauerringen umschlossene Stadt zählte als mittelalterliche Großstadt bis zu 20.000 Einwohner, während selbst die wettinische Hauptresidenz Weimar eine Ackerbürgerstadt von kaum 1800 Einwohnern war. Nur wenige Städte im Reich, wie Köln, Nürnberg oder Straßburg, übertrafen Erfurt an Größe und Wirtschaftskraft. An der Spitze des Gemeinwesens standen die großen Bürgerfamilien, meist Handelsunternehmer. Allen voran übten die Waidjunker, die europaweit einträgliche Geschäfte mit dem Waid tätigten, maßgeblichen Einfluss im Stadtrat aus. Von deren Reichtum zeugen prächtige Bürgerhäuser, wie das „Haus zum Stockfisch“ in der Johannesstraße, das heutige Stadtmuseum. Allerdings erlangten in mehrfachen, teils gewaltsamen Verfassungsänderungen auch wohlhabende Vertreter der Handwerkerschaft den Zugang zum Rathaus am Fischmarkt. Die ärmeren Zünfte, Handwerker, minderberechtigten Bürger und Stadtarmen blieben von der kommunalen Herrschaft freilich ausgeschlossen. Hierin spiegelt sich die extrem differenzierte Sozialstruktur der mittelalterlichen Stadt. Das Wohlstandgefälle reichte von den wenigen reichen Waidhändlern, die für die Ausübung dieses lukrativen Gewerbes ein versteuertes Vermögen von mindestens 1000 Gulden besitzen mussten, bis hin zu der breiten Schicht der Kleinhandwerker, Tagelöhner und Armen. Letztere wohnten häufig als „Vortorer“ zwischen innerem und äußerem Stadtring.
Parallel zu seinem Aufstieg als autonome Handelsmacht entwickelte sich Erfurt auch zum weit über Thüringen ausstrahlenden Kulturzentrum. Das für die Zeitgenossen wohl herausstechende äußere Merkmal war die Vielzahl der Türme, die sich gen Himmel streckten. Martin Luther prägte hierfür das Wort von der „Erfordia turrita“, dem „türmereichen Erfurt“. Näherte man sich der Stadt, so entfaltete sie ein beeindruckendes Weichbild. Zu den nach Luthers Auffassung schier uneinnehmbaren Stadtbefestigungen mit ihren gut bewehrten Toren und Wachtürmen kamen außergewöhnlich viele Kirchenbauten. Überragt wurden sie von den beiden imposanten Stadtkronen, dem Ensemble aus Mariendom und Severikirche auf dem Domhügel und der Peterskirche auf dem Petersberg. Vier Kollegiatstifte (St. Marien, St. Severi, Regler, Sacri fontis), elf Klöster (Augustinereremiten, Augustinerinnen [Neuwerk], Benediktiner, Benediktinerinnen [Cyriak], Schotten, Dominikaner, Franziskaner, Kartäuser, Serviten, Weißfrauen, Zisterzienserinnen), eine Hospitalkirche und 27 Pfarrkirchen zählte die Stadt. Die großen Klöster Thüringens in Reinhardsbrunn, Georgenthal, Paulinzella usw. hatten in Erfurt ebenso Niederlassungen wie der Deutsche Orden und die Johanniter. Diese Vielzahl der kirchlichen Einrichtungen trug Erfurt den Beinamen „thüringisches Rom“ ein. Hier wirkten bedeutende Theologen, darunter der Mystiker Meister Eckart, 1294-1311 Prior des Erfurter Dominikanerklosters und Vikar der Ordensprovinz Thüringen bzw. Saxonia.
1379 erhielt der Rat das erste päpstliche Privileg für die Gründung einer Universität im heutigen Deutschland. Nach erneuter Privilegierung 1389 nahm sie 1392 ihren Lehrbetrieb auf. Im 15. Jahrhundert gehörte die Universität Erfurt zu den renommiertesten und meistbesuchten Hochschulen des Reiches. Das Collegium maius, einstiges Hauptgebäude im “lateinischen Viertel” der Altstadt rund um die Michaelisstraße, steht für die Blütezeit Erfurts als Wissenschaftszentrum von europäischem Rang. Erfurt wurde auch zu einem frühen Zentrum des Buchdruckes mit der revolutionären Technik beweglicher Metall-Lettern von Johannes Gutenberg nach 1450. Von besonderer Bedeutung war ebenso die große jüdische Gemeinde, die allerdings mit dem blutigen Pogrom von 1349 ausgelöscht wurde. Von 1458 bis ins 19. Jahrhundert wurden keine Juden in den Mauern der Stadt mehr aufgenommen. Das reiche Erbe der jüdischen Gemeinde manifestiert sich heute dennoch in einem einmalig dichten Netzwerk aus drei Synagogen, Friedhöfen und einem Mikwe-Ritualbad, für das der UNESCO-Welterbestatus angestrebt wird. Die 2009 museal erschlossene Alte Synagoge gilt mit baulichen Anfängen um 1100 als älteste komplett erhaltene Synagoge in Mitteleuropa.
An der Schwelle zur Neuzeit: Luther und die Reformation
Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit wird gemeinhin mit den großen geistesgeschichtlichen Erneuerungsbewegungen um 1500 verknüpft, unter denen die Reformation eine exponierte Stellung einnimmt. Hat man auch deren lange propagierten Aufbruch-Charakter und die überhöhte „Lichtgestalt“ Martin Luther auf der Zeitalter-Schwelle relativiert, so bleibt er doch eine der großen Persönlichkeiten der Weltgeschichte. Und keine andere Stadt außer Wittenberg weißt eine vergleichbare Bedeutung für die Biographie Luthers auf als Erfurt. Es ist die Stadt des Studenten und Magisters (1501-1505), des jungen Mönches und Priesters (1505-1511). Luther selbst umschrieb es so: „Die Erfurter Universität ist meine Mutter, der ich alles verdanke.“ Hier erfolgte am 17. Juli 1505 mit dem Eintritt ins Augustinerkloster die entscheidende biographische Zäsur. Damit begann Luthers leidenschaftliche Suche nach einem „gnädigen Gott“, die in die reformatorischen Grunderkenntnisse mündete. Zugleich stellt die von großen Spannungen erfasste spätmittelalterliche Großstadt einen wesentlichen Erfahrungshorizont für das reformatorische Wirken Luthers dar.
Die imposante Metropole Thüringens machte auch auf den angehenden Studiosus Luther großen Eindruck, als er im Frühjahr 1501 nach Erfurt kam. Allerdings verbarg sich hinter der noch immer beeindruckenden Fassade eine Kommune, die in die Krise geraten war. Die weitgehende Autonomie hatte erste Risse bekommen. In den Verträgen von Amorbach und Weimar 1483 musste die Landeshoheit des Mainzer Erzbischofs und die Schutzherrschaft des sächsischen Kurfürsten ausdrücklich anerkannt werden, ohne allerdings die faktische Autonomie zu verlieren. Hinzu kamen hohe Zahlungsverpflichtungen, Kosten für Söldner und Stadtbefestigungen einschließlich der neuen Zitadelle Cyriaksburg (1480) sowie wirtschaftliche Schwierigkeiten. Dies führte zu einer ausweglosen Verschuldung der Kommune. 1508 verpfändete man sogar das Reichslehen Kapellendorf an den sächsischen Kurfürsten. All dies mündete in die Turbulenzen des Tollen Jahres von Erfurt 1509/10 mit dem Sturz des Rates und mehrfachen Unruhen in der Stadt, die von Mainz und Sachsen angefacht wurden.
Diese dramatischen Vorgänge korrespondierten mit einer spürbaren Unruhe und Krisenstimmung im religiösen Bereich. Man hat das spätmittelalterliche Erfurt als eine „sakrale Gemeinschaft“ beschrieben, in der sich religiöse und politisch-gesellschaftliche Sphäre aufs engste verbanden. In einem aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbaren Spannungsfeld von Antiklerikalismus und großer Religiosität forderten die Bürger vom Klerus die ernsthafte Sorge um das Heil des Einzelnen wie der Kommune, was man sich mit zahlreichen Spenden und Stiftungen auch einiges kosten ließ. Nicht zuletzt die beeindruckenden gotischen Kirchenbauten wurden mit erheblichen Beiträgen der Bürgerschaft errichtet. Genau hier lag aber auch das Konfliktpotenzial, verloren doch viele Zeitgenossen zunehmend das Vertrauen in die verweltlichte Papstkirche und ihre Vertreter vor Ort. Hinzu kam, dass man insbesondere die Spitze der kirchlichen Hierarchie mit dem Weihbischof und dem Kollegiatstift St. Marien auf dem Domberg als Vertreter des erzbischöflichen Landesherrn ansah. Zudem pochten die mit reichen Pfründen ausgestatteten Geistlichen auf ihre Privilegien wie Steuerfreiheit und Befreiung von Bürgerpflichten, was nach 1483 auf immer weniger Verständnis traf.
In jene Zeit des Wandels, der politischen, sozialen und religiösen Unruhe fällt das epochale Wirken Martin Luthers, das ohne seine Jugendzeit in Erfurt nicht denkbar wäre. Dies gilt auch unbeschadet der Erkenntnis jüngerer Forschungen, dass sich Luther hier noch kaum erkennbar vom überlieferten Glauben und seinen Praktiken abwandte. Auch die immer wieder kolportierten Schilderungen über seine verzweifelte, selbstquälerische „Möncherei“ und die existenziellen Ängste um sein Seelenheil bedürfen quellenkritischer Relativierung. Gleichwohl muss man das intensive geistige Ringen des jungen Mönches und Theologen seit seiner Erfurter Zeit keineswegs in Abrede stellen. Wann es sich konkret in die reformatorische Richtung bewegte und wann der Durchbruch, etwa in Form des legendären Wittenberger „Turmerlebnisses“ erfolgte, ist bis heute umstritten. Es mündete jedenfalls in die Überzeugung, dass der Mensch nur durch den Glauben an einen „gnädigen Gott“ und nicht durch kirchliche Vermittlung (z.B. durch Ablassbriefe) oder durch gute Taten („Werkgerechtigkeit“) Erlösung erlange. “Gerecht” werde er allein durch Jesus Christus (solus Christus), die Heilige Schrift (sola scriptura), die Gnade (sola gratia) und den Glauben (sola fide). Jener Kern der lutherschen Theologie schälte sich nach dem Wegzug aus Erfurt 1511 in Wittenberg bis 1517 heraus und nahm während der turbulenten Phase der Reformation in den 1520er Jahren feste Gestalt an.
Am Beginn der Reformation steht der legendäre Anschlag der 95 Thesen Luthers gegen den Ablasshandel an die Schlosskirche zu Wittenberg am 31. Oktober 1517. Zunächst waren die Thesen als zeitüblicher Aufruf zur wissenschaftlichen Diskussion gedacht und mit einem Schreiben an Albrecht von Brandenburg, Erzbischof von Mainz und Magdeburg, versehen. In dessen Landen und mit dessen Auftrag war der berüchtigte Ablasshändler Johann Tetzel sehr zum Unwillen Luthers aktiv. Die Thesen bekamen, wohl auch zur Überraschung des Wittenberger Professors, rasch den Charakter eines Fanals für jene theologische Erneuerungsbewegung, die sofort auch die politische Ebene erfasste. Da Albrecht nicht reagierte, verschickte Luther seine Thesen an Freunde und Bekannte, darunter auch an den einstigen Mitbruder und Freund Johannes Lang in Erfurt. Schon am 11. November gingen die Thesen ans hiesige Augustinerkloster, von wo sie sich wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreiteten.
Rasch fand die lutherische Theologie Anhänger. Der Aufenthalt auf der Reise von Wittenberg zum Reichstag in Worms im April 1521 wurde zum wahren Triumphzug. Schon vor den Toren der Stadt von Rat und Universität feierlich empfangen, predigte Luther in der überfüllten Augustinerkirche. Wenige Monate später entlud sich die Stimmung gegen den Klerus im gewaltsamen „Erfurter Pfaffensturm“, den der Stadtrat zur Zurückdrängung von dessen Privilegien nutzte. Auf dem Höhepunkt des Bauernkrieges im Mai 1525 erklärte sich Erfurt sogar für unabhängig und setzte die Reformation voll durch. Allerdings blieb dies wegen der machtpolitischen Rahmenbedingungen Episode. Schon 1526 fügte man sich Mainz wieder und holte die vertriebenen Geistlichen zurück. Dies geschah nicht zuletzt in der Furcht, nun vom evangelischen Schutzherren Sachsen vereinnahmt zu werden, der seit langem begehrliche Blicke auf die reiche Stadt inmitten seines Herrschaftsgebietes geworfen hatte. Im Hammelburger Vertrag 1530 zwischen Stadt und Erzbischof wurde schließlich erstmals, lange vor dem Augsburger Religionsfrieden von 1555, das Nebeneinander von evangelischer und katholischer Konfession festgeschrieben.
Fortan sollte nach dem Willen des Rates konfessionelle Ruhe einkehren, wenngleich die Protestanten ein klares Übergewicht in der Bevölkerung gewannen. Die Koexistenz mit den Katholiken ist dabei keineswegs nur als Misserfolg der evangelisch gesinnten Teile der Bürgerschaft und des Rates zu verstehen, auch wenn dies wohl von vielen Akteuren so empfunden worden sein mag. Das „Tragen auf beiden Schultern“, wie es zeitgenössisch hieß, galt verantwortungsbewussten Stadträten als wichtige Voraussetzung für inneren Frieden und außenpolitische Stabilität. Die Stadt hatte sich gegenüber dem katholischen Landesherren Mainz ebenso zu behaupten wie gegenüber dem evangelischen Schutzherren Sachsen; das Verhältnis zum Kaiser und den katholischen Reichsständen war ebenso wichtig wie das zu den evangelischen Fürsten. So trat Erfurt auch keinem der großen konfessionellen Bündnisse bei. Im Inneren galt es Auseinandersetzungen zu vermeiden, in die sich die auswärtigen Mächte gerne einmischten. Einheit und Autonomie der Bürgerschaft wurden als höchste Werte beschworen.
So gelang es der thüringischen Metropole, auch dank einer wirtschaftlichen Spätblüte bis ins frühe 17. Jahrhundert, ihre Autonomie in bewährtem Lavieren zwischen Mainz und Sachsen zu behaupten. Der Dreißigjährige Krieg 1618-1648 untergrub allerdings die wirtschaftlichen Fundamente des Gemeinwesens, während die Verhandlungen zum Westfälischen Frieden 1648 auch die Hoffnungen auf den angestrebten Status einer Reichsstadt zunichtemachten. 1664 fiel die Stadt unter die absolutistische Herrschaft des Mainzer Erzbischofs und fristete im 17. und 18. Jahrhundert ein Schattendasein als kurmainzische Provinzstadt. Von 1802 bis 1945 gehörte Erfurt zu Preußen, wobei es seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur modernen Industriegroßstadt und Verkehrsdrehscheibe aufstieg. Im Land Thüringen von 1945/52 übernahm Erfurt erstmals die Hauptstadtrolle, ehe die Länder in der DDR 1952 zerschlagen wurden. Seit 1990/91 ist die alte „Metropolis Thuringiae“ die Hauptstadt des Bundeslandes (seit 1993 Freistaates) Thüringen im vereinten Deutschland.
Steffen Raßloff: Metropolis Thuringiae. Das spätmittelalterliche Erfurt (Thüringen. Blätter zur Landeskunde 91). Erfurt 2011.
Lesetipps:
Steffen Raßloff: Geschichte der Stadt Erfurt. Erfurt 2012 (5. Auflage 2019).
Steffen Raßloff: Erfurt. 55 Highlights aus der Geschichte. Erfurt 2021.
Steffen Raßloff: Kleine Geschichte der Stadt Erfurt. Ilmenau 2016 (2. Auflage 2020).
Siehe auch: Geschichte der Stadt Erfurt, Geschichte Thüringens, Reichsstädte Mühlhausen und Nordhausen