Eduard Lingel
Eduard Lingel
Beitrag der Serie Denkmale in Erfurt aus der Thüringer Allgemeine von Dr. Steffen Raßloff (13.07.2013)
Eine echte Gründerzeitkarriere
DENKMALE IN ERFURT (106): Eduard Lingel schaffte es vom Schuster zum Chef eines Großkonzerns der Schuhindustrie.
Manchmal geht die Geschichte merkwürdige Wege. Von den ausgedehnten Anlagen der Schuhfabrik Lingel AG an der Martin-Anderson-Nexö-Straße steht heute nichts mehr. Noch zu DDR-Zeiten stellten hier im VEB Paul Schäfer tausende Mitarbeiter Schuhe für den internationalen Markt her. Jetzt harrt das beräumte Gelände einer Umgestaltung im Zuge der Erneuerung der südlichen Stadteinfahrt und des Stadionumbaus. Während also hier von einem der bedeutendsten Kapitel der Erfurter Industriegeschichte kaum mehr etwas zu spüren ist, erinnert ausgerechnet am malerischen Herrmannsplatz in der Altstadt eine Gedenktafel an dessen Ausgangspunkt. Hier, im Haus Herrmannsplatz 5, hatte Eduard Lingel 1874 seine zwei Jahre zuvor am Fischersand 9 gegründete kleine Schuhwerkstatt erstmals deutlich erweitert (Foto: Alexander Raßloff). Wenige Jahrzehnte später sollte hieraus der Marktführer der deutschen Schuhindustrie werden.
Der im fränkischen Königsberg geborene Eduard Lingel (1849-1922) gehört also zu den typischen Vertretern der sogenannten Gründergeneration. Männer wie er hatten mit dafür gesorgt, dass aus Deutschland innerhalb einer Generation eine der führenden Industrienationen der Welt wurde. Erfurt sollte sich in jener Zeit zur modernen Industriegroßstadt entwickeln. Nach der Reichsgründung 1871 rückte es zur kreisfreien Stadt auf und verlor seinen hemmenden Festungscharakter. Mit der „Gründerzeit“ beginnend wuchs die Einwohnerzahl rasant von 43.000 (1871) auf 100.000 (1906). Mit Stolz konnte Oberbürgermeister Hermann Schmidt verkünden, dass mit dem Fleischermeistersohn Wilhelm Mund am 22. Mai 1906 „die Stadt Erfurt Großstadt geworden ist“. Bis 1914 brachte es Erfurt auf 130.000 Einwohner.
Grundlage hierfür war die dynamische wirtschaftliche Entwicklung. Als Leitbranchen gaben die Metall- und Textilindustrie den meisten Arbeitern Lohn und Brot. 1872 beschloss der 23-jährige Kaufmann Lingel in dieser aufstrebenden Stadt sich selbstständig zu machen. Schon in seinen Werkstätten am Herrmannsplatz hatte der Jungunternehmer rasch mehrere hundert Arbeiter beschäftigt. Auf dem noch vor der Jahrhundertwende bezogenen großen Areal an der damaligen Landgrafenstraße (Martin-Anderson-Nexö-Straße) produzierten schließlich in Lingels Sterbejahr 1922 mehr als 2200 Mitarbeiter rund zwei Millionen Paar Schuhe pro Jahr. Das Unternehmen hatte sowohl im ökonomischen, als auch im technischen Bereich die Innovationen der Zeit aufgegriffen. Auch nach der Verstaatlichung 1948 blieb der VEB Paul Schäfer einer der großen Schuhhersteller, der sogar für den Westexport (Salamander) produziert. Nach der Wende scheiterte allerdings der Versuch, noch einmal an die Traditionsmarke Lingel anzuknüpfen, mit der Liquidation der Firma 1992.
Lesetipp:
Steffen Raßloff: Moderne Zeiten. Die Industriegroßstadt Erfurt. In: Erfurt. 55 Highlights aus der Geschichte. Erfurt 2021. S. 78 f.
Siehe auch: Geschichte der Stadt Erfurt, Industriegroßstadt Erfurt