Kriegsgefangenenlager Johannesplatz: Unterschied zwischen den Versionen

Aus erfurt-web.de
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Keine Bearbeitungszusammenfassung
Keine Bearbeitungszusammenfassung
 
(9 dazwischenliegende Versionen von 2 Benutzern werden nicht angezeigt)
Zeile 1: Zeile 1:
= Kriegsgefangenenlager Johannesplatz =
= Kriegsgefangenenlager Johannesplatz =


'''Beitrag der Serie [[Denkmale in Erfurt|Denkmale in Erfurt]] aus der Thüringer Allgemeine von [[Steffen Raßloff|Dr. Steffen Raßloff]] (30.11.2013)'''
'''Beitrag der Serie [[Denkmale in Erfurt|Denkmale in Erfurt]] aus der Thüringer Allgemeine von [[Steffen Rassloff|Dr. Steffen Raßloff]] (30.11.2013)'''




Zeile 9: Zeile 9:




[[Datei:Johannesplatz.jpg|380px|right]][[Datei:AmFranzosenlager.jpg|380px|right]]Im kommenden Jahr wird die kollektive Erinnerungskultur nicht nur in Deutschland den Fokus stark auf den 100. Jahrestag des Ersten Weltkrieges 1914/18 legen. Auf den ersten Blick bietet Erfurt kaum Gedenkorte für die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie es der amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan formuliert hat. Weit ab von den Fronten in Ost und West gelegen, gab es hier keine Kämpfe und Zerstörungen, zumal der Luftkrieg noch in den Kinderschuhen steckte. Schaut man aber genauer hin, so offenbaren sich einschneidende Veränderungen. Erfurt wurde eine der größten Rüstungsschmieden Deutschlands, öffentliche Gebäude mussten zu Lazaretten umfunktioniert und der neue Hauptfriedhof vorfristig geöffnet werden. Schlimmste Folge aber war die dramatische Verschlechterung der Lebensbedingungen an der „Heimatfront“.
[[Datei:Johannesplatz.jpg|340px|right]][[Datei:GefangeneLagerJohannesplatz.jpg|340px|right]]Im kommenden Jahr wird die kollektive Erinnerungskultur nicht nur in Deutschland den Fokus stark auf den 100. Jahrestag des Ersten Weltkrieges 1914/18 legen. Auf den ersten Blick bietet Erfurt kaum Gedenkorte für die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie es der amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan formuliert hat. Weit ab von den Fronten in Ost und West gelegen, gab es hier keine Kämpfe und Zerstörungen, zumal der Luftkrieg noch in den Kinderschuhen steckte. Schaut man aber genauer hin, so offenbaren sich einschneidende Veränderungen. Erfurt wurde eine der größten Rüstungsschmieden Deutschlands, öffentliche Gebäude mussten zu Lazaretten umfunktioniert und der neue Hauptfriedhof vorfristig geöffnet werden. Schlimmste Folge aber war die dramatische Verschlechterung der Lebensbedingungen an der „Heimatfront“.


Einen unmittelbaren Bezug zum Ersten Weltkrieg weist der Johannesplatz auf. Er besitzt nicht nur deshalb Denkmalcharakter, weil hier in den 1960er Jahren das erste Plattenbaugebiet der Stadt errichtet wurde (siehe Abb.). Vorher befand sich auf jenem großen rechteckigen Freigelände zwischen heutigem Ammertalweg, Friedrich-Engels-Straße, Eislebener Straße und Magdeburger Allee zeitweise ein Kriegsgefangenenlager. Schon im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 hatte man hier gefangene Soldaten untergebracht. Von 1914 bis 1916 lebten und arbeiteten dort bis zu 15.000 Gefangene beider großer Kriegsschauplätze, insbesondere Russen, Franzosen und Briten. Jenes Lager mit seinen tausenden Insassen mag, auch in verklärter Rückschau auf 1870/71, die Siegeszuversicht der Anfangsphase des Krieges bei den Erfurtern mit bestärkt haben.   
Einen unmittelbaren Bezug zum Ersten Weltkrieg weist der Johannesplatz auf. Er besitzt nicht nur deshalb Denkmalcharakter, weil hier in den 1960er Jahren das erste Plattenbaugebiet der Stadt errichtet wurde (Foto: Alexander Raßloff). Vorher befand sich auf jenem großen rechteckigen Freigelände zwischen heutigem Ammertalweg, Friedrich-Engels-Straße, Eislebener Straße und Magdeburger Allee zeitweise ein Kriegsgefangenenlager. Schon im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 hatte man hier gefangene Soldaten untergebracht. Von 1914 bis 1916 lebten und arbeiteten dort bis zu 15.000 Gefangene beider großer Kriegsschauplätze, insbesondere Russen, Franzosen und Briten. (Foto: Stadtarchiv Erfurt) Jenes Lager mit seinen tausenden Insassen mag, auch in verklärter Rückschau auf 1870/71, die Siegeszuversicht der Anfangsphase des Krieges bei den Erfurtern mit bestärkt haben.   
   
   
An die militärische Geschichte des Johannesplatzes erinnert unmittelbar nur noch die letzte erhaltene Baracke auf dem Postsportplatz. Einen indirekten Hinweis gibt auch die 1904 so benannte Lagerstraße zwischen Ilversgehofener Platz und Ammertalweg. Letzterer hieß von 1912 bis 1950 mit noch deutlicherem Bezug „Am Franzosenlager“. Diesen Namen trägt übrigens auch ein in den französischen Nationalfarben dekoriertes Bistro in der Lagerstraße (siehe Abb.). Allerdings ist das eher eine historische Reminiszenz, bietet die Speisekarte doch klassische thüringische Kost. Die Lagerstraße als einstige Zufahrt wäre sicher der geeignete Ort, an das Kriegsgefangenenlager mit einer Gedenktafel oder in anderer geeigneter Form zu erinnern. Das 100. Jahr der Wiederkehr des Kriegsbeginns 1914 wäre dafür der richtige Zeitpunkt. Die Langzeitfolgen jener „Urkatastrophe“ mit einem weiteren, noch verheerenderen Weltkrieg und zwei Diktaturen haben auch Erfurts Geschichte nachhaltig beeinflusst. (Fotos: Alexander Raßloff)
An die militärische Geschichte des Johannesplatzes erinnert unmittelbar nur noch die letzte erhaltene Baracke auf dem Postsportplatz. Einen indirekten Hinweis gibt auch die 1904 so benannte Lagerstraße zwischen Ilversgehofener Platz und Ammertalweg. Letzterer hieß von 1912 bis 1950 mit noch deutlicherem Bezug „Am Franzosenlager“. Diesen Namen trägt übrigens auch ein in den französischen Nationalfarben dekoriertes Bistro in der Lagerstraße. Allerdings ist das eher eine historische Reminiszenz, bietet die Speisekarte doch klassische thüringische Kost. Die Lagerstraße als einstige Zufahrt wäre sicher der geeignete Ort, an das Kriegsgefangenenlager mit einer Gedenktafel oder in anderer geeigneter Form zu erinnern. Das 100. Jahr der Wiederkehr des Kriegsbeginns 1914 wäre dafür der richtige Zeitpunkt. Die Langzeitfolgen jener „Urkatastrophe“ mit einem weiteren, noch verheerenderen Weltkrieg und zwei Diktaturen haben auch Erfurts Geschichte nachhaltig beeinflusst.




Literaturtipp:
Siehe auch: '''[[Geschichte der Stadt Erfurt]]''', '''[[Erster Weltkrieg]]''', '''[[Neubaugebiet Johannesplatz]]''', '''[[Ilversgehofen]]'''
 
'''Steffen Raßloff: [[100 Denkmale in Erfurt|100 Denkmale in Erfurt. Geschichte und Geschichten]].''' Mit Fotografien von Sascha Fromm (Thüringen Bibliothek. Bd. 11). Essen 2013.
 
 
Siehe auch: '''[[Geschichte der Stadt Erfurt]]'''

Aktuelle Version vom 1. Oktober 2022, 13:13 Uhr

Kriegsgefangenenlager Johannesplatz

Beitrag der Serie Denkmale in Erfurt aus der Thüringer Allgemeine von Dr. Steffen Raßloff (30.11.2013)


Das „Franzosenlager“

DENKMALE IN ERFURT (126): Auf dem Johannesplatz befand sich von 1914 bis 1916 eines der großen Gefangenenlager des Ersten Weltkrieges.


Johannesplatz.jpg
GefangeneLagerJohannesplatz.jpg

Im kommenden Jahr wird die kollektive Erinnerungskultur nicht nur in Deutschland den Fokus stark auf den 100. Jahrestag des Ersten Weltkrieges 1914/18 legen. Auf den ersten Blick bietet Erfurt kaum Gedenkorte für die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie es der amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan formuliert hat. Weit ab von den Fronten in Ost und West gelegen, gab es hier keine Kämpfe und Zerstörungen, zumal der Luftkrieg noch in den Kinderschuhen steckte. Schaut man aber genauer hin, so offenbaren sich einschneidende Veränderungen. Erfurt wurde eine der größten Rüstungsschmieden Deutschlands, öffentliche Gebäude mussten zu Lazaretten umfunktioniert und der neue Hauptfriedhof vorfristig geöffnet werden. Schlimmste Folge aber war die dramatische Verschlechterung der Lebensbedingungen an der „Heimatfront“.

Einen unmittelbaren Bezug zum Ersten Weltkrieg weist der Johannesplatz auf. Er besitzt nicht nur deshalb Denkmalcharakter, weil hier in den 1960er Jahren das erste Plattenbaugebiet der Stadt errichtet wurde (Foto: Alexander Raßloff). Vorher befand sich auf jenem großen rechteckigen Freigelände zwischen heutigem Ammertalweg, Friedrich-Engels-Straße, Eislebener Straße und Magdeburger Allee zeitweise ein Kriegsgefangenenlager. Schon im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 hatte man hier gefangene Soldaten untergebracht. Von 1914 bis 1916 lebten und arbeiteten dort bis zu 15.000 Gefangene beider großer Kriegsschauplätze, insbesondere Russen, Franzosen und Briten. (Foto: Stadtarchiv Erfurt) Jenes Lager mit seinen tausenden Insassen mag, auch in verklärter Rückschau auf 1870/71, die Siegeszuversicht der Anfangsphase des Krieges bei den Erfurtern mit bestärkt haben.

An die militärische Geschichte des Johannesplatzes erinnert unmittelbar nur noch die letzte erhaltene Baracke auf dem Postsportplatz. Einen indirekten Hinweis gibt auch die 1904 so benannte Lagerstraße zwischen Ilversgehofener Platz und Ammertalweg. Letzterer hieß von 1912 bis 1950 mit noch deutlicherem Bezug „Am Franzosenlager“. Diesen Namen trägt übrigens auch ein in den französischen Nationalfarben dekoriertes Bistro in der Lagerstraße. Allerdings ist das eher eine historische Reminiszenz, bietet die Speisekarte doch klassische thüringische Kost. Die Lagerstraße als einstige Zufahrt wäre sicher der geeignete Ort, an das Kriegsgefangenenlager mit einer Gedenktafel oder in anderer geeigneter Form zu erinnern. Das 100. Jahr der Wiederkehr des Kriegsbeginns 1914 wäre dafür der richtige Zeitpunkt. Die Langzeitfolgen jener „Urkatastrophe“ mit einem weiteren, noch verheerenderen Weltkrieg und zwei Diktaturen haben auch Erfurts Geschichte nachhaltig beeinflusst.


Siehe auch: Geschichte der Stadt Erfurt, Erster Weltkrieg, Neubaugebiet Johannesplatz, Ilversgehofen