Schicksalswahl Landtag Thueringen 1924
Thüringens Schicksalswahl?
Vor 100 Jahren ließ sich die Thüringer Landesregierung von der extremen Rechten tolerieren.
Am 10. Februar 1924 wurde in Thüringen ein neuer Landtag gewählt. Es war erst der dritte im noch jungen Freistaat, der 1920 aus dem Zusammenschluss der Kleinstaaten im „Land der Residenzen“ hervorgegangen war. Das Wahlergebnis stellte keines der politischen Lager zufrieden: die linken Arbeiterparteien SPD und KPD verloren ihre Vorherrschaft, den Bürgerparteien fehlten einige Sitze zur Regierungsmehrheit. Dennoch war der von linksliberaler Deutscher Demokratischer Partei (DDP), rechtsliberaler Deutscher Volkspartei (DVP), konservativer Deutschnationaler Volkspartei (DNVP) und Landbund gebildete Thüringer Ordnungsbund stärkste Kraft im Weimarer Landtag, der in der heutigen Musikhochschule tagte (Foto: Dr. Steffen Raßloff). Seinen 35 Abgeordneten standen 30 linke (SPD 17, KPD 13) bei 72 Mandaten gegenüber.
Dies brachte die sieben Abgeordneten der Vereinigten Völkischen Liste in eine Schlüsselposition. Dort hatten sich nach dem gescheiterten Münchner Hitlerputsch vom 9. November 1923 die Vertreter der verbotenen NSDAP und andere Völkische zusammengeschlossen. Damit gelangten erstmals Rechtsradikale in ein Landesparlament, was für reichsweite Aufmerksamkeit sorgte. Nun schlug die Stunde des Antisemiten Artur Dinter. Der exzentrische Führer der Völkischen nutzte die schwierige Lage des Ordnungsbundes, der um keinen Preis mit den Arbeiterparteien koalieren wollte. Die Stimmen für die Landesregierung unter Richard Leutheußer (DVP) verstand er in politische Münze umzuschlagen. Dinter hatte gefordert, dass „die Regierung nur aus deutschblütigen, nichtmarxistischen Männern“ bestehen dürfe. Das zielte auf jüdische DDP-Politiker wie Eduard Rosenthal, Schöpfer der Landesverfassung von 1920. Der Regierung schienen solche Zugeständnisse nicht schwer zu fallen, war doch ein mehr oder weniger latenter Antisemitismus weit verbreitet. Der völkische Tolerierungspartner konnte spektakuläre Erfolge verzeichnen, wie den Rücktritt des jüdischen Staatsbankdirektors Walter Loeb. Offene Türen rannte man bei der Regierung auch in Sachen Weimarer Bauhaus ein. Der „Wiege der Moderne“ wurden die Mittel gekürzt, worauf die Bauhäusler um Walter Gropius 1925 nach Dessau umzogen.
Entscheidend dafür, dass sich die Regierung von radikalen Antisemiten abhängig machte, war freilich die extreme Polarisierung der politischen Lager. Die SPD-Regierung unter August Frölich, toleriert von der linksextremen KPD, hatte von 1921 bis 1923 mit einer rigiden sozialistischen Reformpolitik die Gräben seit dem Bürgerkrieg der frühen Weimarer Republik weiter vertieft. Gipfelpunkt war die „Arbeiterregierung“ mit der KPD im „heißen Herbst“ 1923. Jetzt zielten die Bürgerlichen mit aller Kraft auf die Entmachtung der Linken: „Das ganze Land kam auf den Hund, uns hilft nur noch der Ordnungsbund!“ Dies war keine zwangsläufige Entwicklung. In Preußen etwa regierte bis 1932 eine lagerübergreifende Koalition aus SPD, Liberalen und katholischer Zentrumspartei. In Thüringen dagegen überwog die gemeinsame Frontstellung die Vorbehalte der Bürgerlichen gegen die radikalen „Nazis“. Mit der Tolerierung von 1924 begann Thüringen eine markante Vorreiterrolle beim Aufstieg des Nationalsozialismus zu spielen. Dies gipfelte 1930 in der ersten Regierungsbeteiligung der NSDAP mit Wilhelm Frick als Innen- und Volksbildungsminister. Frick sollte 1933 zu Hitlers Reichsinnenminister aufsteigen. Im Juli 1932 vollzog die NSDAP mit der Regierung unter Gauleiter Fritz Sauckel die „vorgezogene Machtergreifung“ in Thüringen und profilierte sich nach 1933 zum „Mustergau“ im Dritten Reich.
(Dr. Steffen Raßloff in: Thüringer Allgemeine vom 10.02.2024)
Siehe auch: Parteien und Landespolitik 1920-1933, Mustergau Thüringen im Nationalsozialismus, Geschichte Thüringens