Erfurter Parteitag 1891
Antworten auf die „soziale Frage“
Im Oktober 1891 fand im Kaisersaal der Erfurter Parteitag der SPD mit der Verabschiedung des wegweisenden Erfurter Programms statt.
Mitte des 19. Jahrhunderts setzte das Industriezeitalter ein, dem der Freistaat Thüringen 2018 ein Themenjahr widmet. Die Industrialisierung warf auch die „soziale Frage“ auf, die auf die Lebensbedingungen der rasant wachsenden Arbeiterschaft zielte. Die junge SPD forderte soziale Gerechtigkeit und demokratische Mitbestimmung, was ihr den Ruf einer „roten Umsturzpartei“ einbrachte. Mit dem „Sozialistengesetz“ 1878-1890 versuchte Reichskanzler Otto von Bismarck sie zu zerschlagen.
Nach über einem Jahrzehnt der Illegalität galt es zurück auf die politische Bühne zu finden. Der Vorsitzende Paul Singer eröffnete am 14. Oktober 1891 den Erfurter Parteitag der SPD mit dem Ziel ein Programm zu erarbeiten, das „unsere Forderungen in klarer und allgemein verständlicher Form zu Ausdruck bringt“. In Gegenwart von „Arbeiterkaiser“ August Bebel und 235 Delegierten begann eine Woche voller Beratungen im Kaisersaal.
Welche Ideologie sollte dem Programm in einer sich rapide verändernden Industriegesellschaft zugrunde liegen? Welche politischen Ziele sollte man sich stecken? Wie konnte das Leben der Arbeiter verbessert werden, die bis zu 12 Stunden schuften mussten und in „Mietskasernen“ hausten? Am Ende wurde das „Erfurter Programm“ beschlossen, das über Jahrzehnte den Kurs der Partei bestimmte und internationale Vorbildwirkung entfaltete.
Im ersten Teil ging das Programm Karl Marx folgend von der Zuspitzung des „Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat“ aus. Einen Ausweg biete nur die Vergesellschaftung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Im zweiten Teil folgten praktische Forderungen wie demokratisches Wahlrecht, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, Gleichberechtigung der Frau, Achtstundentag, Verbot der Kinder- und Nachtarbeit u.ä.
Die Vorstellungen über eine zukünftige Gesellschaft blieben vage und traten hinter den realpolitischen Forderungen zurück. In der SPD-Hochburg Erfurt wurde damit nicht nur der neue Name „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ festgeschrieben, sondern auch der spannungsreiche Kurs zwischen revolutionärer Theorie und sozialreformerisch-demokratischer Praxis eingeschlagen. Nach 1945 verabschiedete sich die SPD in der Bundesrepublik endgültig vom Marxismus und erklärte sich zur Partei von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in der marktwirtschaftlichen Gesellschaft.
Erinnert wird an den Erfurter Parteitag heute mit einer Gedenktafel am Kaisersaal, wo sich in der DDR-Zeit sogar eine Gedenkstätte befand. Bei besonderen Anlässen macht man im Kultur- und Kongresszentrum auf das Ereignis aufmerksam, so etwa 2011 mit Veranstaltungen und einer Ausstellung zum 120. Jahrestag (Foto: Dr. Steffen Raßloff). Nur wenige Schritte entfernt finden sich im Stadtmuseum „Haus zum Stockfisch“ in der Johannesstraße weitere historische Spuren. Der Ausstellungsabschnitt zur modernen Industriegroßstadt Erfurt präsentiert neben Relikten der SPD-Geschichte auch den Wanderstock August Bebels, mit dem dieser die Verhandlungen des Parteitags dirigiert haben soll.
(Dr. Steffen Raßloff in Thüringer Allgemeine/Thüringische Landeszeitung vom 31.01.2018)
> Themenjahr Industrialisierung und soziale Bewegungen in Thüringen 2018
Siehe auch: Erfurt und die SPD, Geschichte der Stadt Erfurt