Kapitel 2
Geschichte der Stadt Erfurt
Kapitel II der Geschichte der Stadt Erfurt:
Mittelalterliche Handels- und Kulturmetropole (13. bis 15. Jh.)
In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gelang es der Bürgerschaft, sich nahezu völlige Autonomie und Selbstverwaltung zu erkämpfen, ohne die nominelle Oberherrschaft des Mainzer Landesherren abzustreifen. 1192 tauchen erstmals Bürger als Zeugen erzbischöflicher Urkunden auf, ausdrücklich als Rat wird die Stadtvertretung ab 1217 erwähnt. Herz der neuen kommunalen Selbstverwaltung und Sitz des Stadtrates wurde das Rathaus am Fischmarkt (1275 erstmals erwähnt). Als Machtzentrum und Repräsentationsort besaß es auch eine wertvollen Ausstattung: Ratssilber, Setzschilde, Rundbilder, Glasfenster, die große Armbrust u.v.a. (zu sehen im Stadtmuseum Erfurt). Mehrfach erweitert und umgebaut, musste der historische Gebäudekomplex erst dem neogotischen Neubau 1869 weichen. Die wachsende Wirtschafts- und Finanzkraft der Stadt und ihrer Bürger, aus ertragreichem Handel, v.a. mit dem beliebten Blaufärbemittel Waid geschöpft, gestattete es, die meisten verbliebenen Rechte des Erzbischofs bis zum Ende des 13. Jahrhunderts an sich zu bringen.
Bis Ende des 15. Jahrhunderts gelang es nun der Metropolis Thuringiae, sich als wichtiger Machtfaktor zwischen Mainz, den ludowingischen Thüringer Landgrafen (1131-1247) und deren Nachfolgern, den wettininschen Markgrafen von Meißen und späteren Kurfürsten von Sachsen (1423) sowie den übrigen Herrschern des Umlandes erfolgreich zu behaupten. In diesen Zusammenhang gehört auch der Aufbau eines städtischen Territoriums , das in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zwei Städte, Erfurt selbst und Sömmerda, sowie fast 100 Dörfer und Burgen umfasste. Symbolisiert wird das "Land Erfurt" im großen Stadtwappen. Zugleich hatte man sich im "Thüringer Dreistädtebund" (1306-1481) mit den Reichsstädten Mühlhausen und Nordhausen verbündet. Erfurt galt dank des Reichslehens Wasserburg Kapellendorf faktisch als Reichsstadt und lehnte sich an die kaiserliche Reichsgewalt an; schon 1239 hatte Friedrich II. der Stadt einen Schutzbrief ausgestellt, der von vielen seiner Nachfolger bestätigt wurde. 1289/90 residierte König Rudolf von Habsburg zehn Monate auf dem Petersberg, wobei er im Raum Thüringen gemeinsam mit den Erfurtern den Landfrieden wieder herstellte.
Unberührt von Turbulenzen um die Vorherrschaft und Verfassungsfragen in der Stadt strebte Erfurt im 14. Jahrhundert seinem wirtschaftlichen und politischen Höhepunkt entgegen. Reichtum und Macht der Bürger spiegelten sich auch im Stadtbild wieder. Der Nürnberger Chronist Hartmann Schedel zählte Ende des 15. Jahrhunderts die Merkmale der Erfurter Blütezeit auf: "Diese Stadt liegt in einer gar guten Flur und fruchtbarem Erdboden, der trägt ein Kraut Waydt genannt, zur Färbung der Tücher dienlich. Diese Stadt hat an Wohnungen, Häusern und Höfen der Bürger und an Gezierden der Klöster und Kirchen wunderparlich zugenommen." Erfurt gehörte mit bis zu 20.000 Einwohnern zu den wenigen mittelalterlichen "Großstädten" im Reich, die Mauer von 1168/69 musste 1432-1446 durch einen zweiten Mauerring um die Vorstädte ergänzt werden. 1483 kam die Festung Cyriaksburg auf einer strategisch wichtigen Anhöhe im Südwesten vor der Stadtmauer hinzu. 1325 errichtete die Stadtgemeinde an Stelle einer alten Holzbrücke (um 1100) die berühmte Krämerbrücke, die einzige durchgehend mit Häusern bebaute Brücke nördlich der Alpen. Die Bürgerhäuser zeugen ebenso vom Reichtum der Stadt. Natürlich spielte auch der legendäre Narr Till Eulenspiegel in dieser Metropole seine Streiche.
Den noch heute sichtbarsten Ausdruck fand die mittelalterliche Größe Erfurts jedoch in seinen Kirchenbauten. 1329 wurde der Domhügel Richtung Domplatz durch gewaltige künstliche Aufschüttungen und Steinbögen (Kavaten) erweitert, auf denen 1349-1372 der Hohe Chor entstand. 1330 hatte man das reich verzierte Triangelportal angelegt. 1455-1465 entstand das spätgotische Langhaus. Zusammen mit der gotisch umgebauten Severikirche bildet der Domhügel seither ein einzigartiges Ensemble. Hinzu kamen die gewaltigen Klosterkirchen der Bettelorden der Franziskaner ("Barfüßer", seit 1224) und Dominikaner ("Prediger", seit 1229). Der Mystiker Meister Eckhart (1260-1328) verbrachte 28 Jahre seines Lebens im Erfurter Predigerkloster und ließ es so zu einem Zentrum der Mystik werden. Ein weiterer wichtiger Bettelorden war der der Augustinereremiten (seit 1276). Im Augustinerkloster begann der Student Martin Luther seit 1505 seinen Weg zum Kirchenreformator.
Die vermutlich bereits seit dem 11. Jahrhundert existierende jüdische Gemeinde entwickelte sich zu einer der größten und bedeutendsten im Reich. Hiervor zeugt allein schon die Alte Synagoge, deren älteste bauliche Reste bis ins 11. Jahrhundert zurück reichen. Noch heute sind alle für eine mittelalterliche Gemeinde nötigen Einrichtungen nachvollziehbar: Neben der Synagoge besonders eine Mikwe (Ritualbad) und ein Friedhof. In einem klar umgrenzten Wohnquartier von der Michaeliskirche bis zum Bereich östlich des Rathauses lebten Juden Haus an Haus mit Christen. Die immer wieder mit Repressalien verbundene Außenseiterstellung der Juden gipfelte jedoch im blutigen Pogrom von 1349, der vermutlich die gesamte Gemeinde auslöschte. Eine wenig später neu angesiedelte Gemeinde verschwand endgültig 1458 aus der Stadt.
Höhepunkt in der Entwicklung des Erfurter Geisteslebens war 1379 die Gründung der Universität. Bereits im 12. Jahrhundert existierten eine Reihe hochschulähnlicher Kloster- und Stifterschulen. Nach wechselvoller Vorgeschichte, u.a. durch das päpstliche Schisma bedingt, nahm die 1379 privilegierte "Hierana" ("Universität an der Gera") im Mai 1392 ihren Lehrbetrieb auf. Sie gilt als die drittälteste Universität im deutschsprachigen Raum (nach Prag 1348 und Wien 1365), da neuere Forschungen zur Gründungsgeschichte für das Privileg von 1379 als Gründungsdatum plädieren (so wie sich auch Prag und Wien auf ihre Privilegien beziehen). Erfurt kann sich so als älteste Universität im heutigen Deutschland vor Heidelberg (1385) und Köln (1388) bezeichnen. Von Beginn an bot sie das volle Spektrum mit allen vier mittelalterlichen Fakultäten (Artistenfakultät [Philosphie], Medizin, Jura, Theologie). Es zeigt die Stärke und das Selbstbewusstsein der Erfurter Bürgerschaft, dass die Universität neben Köln die einzige war, die auf Betreiben einer Stadt, nicht eines Fürsten, ins Leben gerufen wurde. Im 15. Jahrhundert galt sie als eine der angesehensten und meistbesuchten Hochschulen Mitteleuropas. Eine Reihe von Baudenkmalen, v.a. das Collegium maius und die Georgenburse, erinnern im "lateinischen Viertel" um die Michaelisstraße an jene kulturelle Blütezeit.