Helmut-Kohl-Strasse Rassloff: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 4. November 2024, 09:45 Uhr
Helmut Kohl und Erfurt
Die Helmut-Kohl-Straße erinnert seit 2022 an den dienstältesten Bundeskanzler, der Erfurt bereits 1988 besuchte und als "Kanzler der Einheit" am 20. Februar 1990 auf dem Domplatz einen überwältigenden Auftritt hatte.
Straßennamen dienen nicht nur der räumlichen Orientierung in Städten und Gemeinden, sie sind ebenso ein wichtiger Teil des kollektiven historischen Gedächtnisses. Das gilt in besonderem Maße auch für die Landeshauptstadt Erfurt. In einigen Fällen erzählen ihre mittlerweile rund 1800 Straßen, Wege, Gassen und Plätze sogar direkt Geschichte – Stadtgeschichte im engeren Sinne ebenso wie „große Geschichte“. Das trifft gerade für die Benennung nach historischen Persönlichkeiten zu, deren Spektrum von Kaisern, Königen und Kanzlern über die Heroen der Kulturnation bis hin zu lokalen Größen aus Politik, Wirtschaft und Kultur reicht. Aber auch die Historie der Namen selbst und ihrer Umbenennungen ist sehr aufschlussreich.
Eine Chronik der Erfurter Straßennamen, wie sie 1992 aus Anlass des 1250. Stadtjubiläums erschienen ist, kann damit auch wie ein Geschichtsbuch gelesen werden. In der Mittelaltermetropole Erfurt entstanden schon im 12. Jahrhundert die ersten Straßen- und Platznamen. Zur weiteren Orientierung dienten Hausnamen mit Begriffen aus Handwerk und Gewerbe, von Tieren und Pflanzen, von religiösen, topografischen und heraldischen Symbolen. Sie konnten später auf die Straßen übergehen. Namensstiftend waren auch die Kirchen und die durch sie gegliederten Stadtviertel: Johannis-, Viti-, Mariae- und Andreasviertel.
Mit dem Wachstum der Stadt kam es zur Systematisierung der Straßenbezeichnungen. 1680 begann man mit der Nummerierungen der Grundstücke. 1810 wurden die ersten Straßenschilder angebracht und die Nummerierung straßenweise eingeführt. Nach zwischenzeitlichen Änderungen kehrte man Ende der 1860er-Jahre zu dieser bis heute gebräuchlichen Praxis zurück. Viele neue Namen kamen mit dem rasanten Wachstum der Industriegroßstadt im 19. und 20. Jahrhundert hinzu. Jetzt begann auch die umfassende Benennung nach Personen. Dabei erhielten neue Stadtteile einen einheitlichen Sinnbezug, etwa das „Dichterviertel“ im Süden und das „Feldherrenviertel“ im Osten.
Anlass für die vielfachen Umbenennungen seither waren neben Eingemeindungen auch politische Gründe. Die Straßennamen spiegeln damit sinnfällig die Umbrüche im „Zeitalter der Extreme“, insbesondere nach der Errichtung der NS-Diktatur 1933 und der SBZ/DDR 1945. Einige Straßen erlebten dabei bis zu sechs Namenswechsel. Die heutige Magdeburger Allee hat mit die meisten Umbenennungen aufzuweisen: Magdeburger Straße/Hauptstraße/Poststraße (1884), Horst-Wessel-Straße (1933), Straße der Guten Hoffnung (1945), Weißenseer Allee (1945), Stalin-Allee (1950), Karl-Marx-Allee (1961) und Magdeburger Allee (1990).
Die massivste Welle nach 1945 machte auch vor einstigen Symbolfiguren nicht halt, wie Kaiserplatz (Karl-Marx-Platz) und Bismarckstraße (Löberwallgraben) zeigen. Ganze Viertel v.a. im Osten und Norden erhielten die Namen von nationalen und lokalen Exponenten der linken Arbeiterbewegung. So manche der ideologisch aufgepfropften Neubezeichnungen, wie Leninstraße für Johannesstraße, konnte sich freilich nie im kollektiven Bewusstsein verankern. Im Vergleich hierzu nahmen sich die Um- und Rückbenennungen nach 1990 eher behutsam aus. Noch immer ist das Who’s Who der historischen Linken präsent; 2012 wurde sogar trotz bestehender Rosa-Luxemburg-Straße (bis 1945 Yorkstraße) der nahe Talknoten in Rosa-Luxemburg-Platz benannt. Die bürgerlich-nationale Erinnerungskultur vor 1945 bleibt dagegen zumindest im Straßenbild in weiten Teilen ausgelöscht.
Die Benennung von „öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen“ gilt heute – nachdem dies unter den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts faktisch anders war – laut einer Handreichung des Deutschen Städtetags von 2021 als „eine ureigene Selbstverwaltungsaufgabe der Kommunen“. Der gängige Weg dabei führt in Erfurt nach einem entsprechenden Vorschlag, zu dem jedermann berechtigt ist, über die Straßennamenkommission, ein Gremium aus Fachleuten und Vertretern der Stadtratsfraktionen, sowie den Kulturausschuss ins Plenum des Stadtrates. Mit der 2022 feierlich eingeweihten Helmut-Kohl-Straße am Fuße der Zitadelle Petersberg ehrt die Stadt Erfurt eine herausragende Persönlichkeit der Zeitgeschichte, die auf viele Bürger vor Ort großen Eindruck gemacht hat. Der Beschluss des Stadtrates auf Antrag der CDU-Fraktion datiert auf den 18. Oktober 2017. Die Einweihung musste jedoch nach der Zustimmung der Witwe Dr. Maike Kohl-Richter wegen des Baugeschehens am Johanniter-Wohnprojekt „AndreasGärten“ und der Corona-Pandemie mehrfach verschoben werden.
Nun also erinnert man in der Hauptstadt des 1990 konstituierten Bundeslandes Thüringen – nach den Bundeskanzlern Konrad Adenauer und Willy Brandt – auf Basis einer demokratischen Entscheidung auch an Dr. Helmut Kohl (1930-2017). Zu den verschiedenen Kriterien für solche Benennungen, wie Relevanz, Würdigkeit und breite Akzeptanz in der Stadtgesellschaft, gehört auch der regionale Bezug. Dies war im Falle von Kohl, 1982 bis 1998 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland mit der bis heute längsten Amtszeit, unstrittig. Denn der Christdemokrat, der sich anders als andere westdeutsche Politiker nie der DDR-Führung angebiedert hatte, war nicht nur eine treibende Kraft bei der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 und erster gesamtdeutscher Regierungschef, sondern hat auch in Erfurt seine Spuren hinterlassen. Viele der in dieser Publikation versammelten Zeitzeugen erinnern eindrücklich daran. Demgegenüber treten problematische Aspekte wie die Parteispendenaffäre 1999 eher in den Hintergrund.
Der erste Kontakt Helmut Kohls mit den Erfurtern datiert noch in die Zeit der deutschen Teilung und sagt viel aus über das Verhältnis des westdeutschen Kanzlers zu den „Brüdern und Schwestern“ im Osten. In Erfurt ahnte am 27. Mai 1988 außer den Genossen der Sicherheitsorgane und hohen SED-Funktionären niemand, dass Kohl der Blumenstadt eine Stippvisite abstatten würde. Anders als das spektakuläre erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen in Erfurt am 19. März 1970 mit Bundeskanzler Willy Brandt und Ministerratsvorsitzendem Willi Stoph und anders als die medial vielbeachtete DDR-Reise von Bayerns Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß mit Stopp in Erfurt am 26. Juli 1983 wurde der dreitägige Privatbesuch des Kanzlers mit Stationen u.a. in Erfurt, Weimar und Dresden von beiden Seiten weitgehend geheim gehalten.
Der Partei- und Stasi-Spitze um Erich Honecker und Erich Mielke ging es um die Vermeidung von „Öffentlichkeitswirksamkeit“ und „unerwünschter Sympathiekundgebungen“. Noch klang ihr der Jubel der DDR-Bürger für Bundeskanzler Brandt vor dem Interhotel „Erfurter Hof“ 1970 in den Ohren. Auch Helmut Kohl unterstellte man nicht zu Unrecht Popularität im Lande. Der informelle Charakter der Reise mit Ehefrau Hannelore, Sohn Peter, Pressesprecher Friedhelm Ost und Mitarbeiter Wolfgang Bergsdorf – letzterer wurde später Präsident der 1994 wiedergegründeten Universität Erfurt – erschwerte dies aber. Hierauf verweist Friedhelm Ost in seinem Beitrag als direkter Zeitzeuge.
14.30 Uhr mit seinem Fahrzeugkonvoi auf dem Domplatz angekommen, entwischte Kohl während der Besichtigung des Doms seinen MfS-Bewachern. Er inspizierte das Katholisch-Theologische Studium, die einzige katholische Hochschule in der DDR, und kam mit den angehenden Priestern und Weihbischof Joachim Wanke ins Gespräch. Beim Stadtbummel wurde Kohl von vielen Passanten erkannt und um Autogramme gebeten. Zwei Erfurtern gelang es, ihm Briefe mit ihren Ausreisewünschen zuzustecken.
Helmut Kohl war mit dem Kurzbesuch in Erfurt sehr zufrieden. Ihm ging es bei der einzigen Privatreise eines Bundeskanzlers in die DDR besonders um den direkten Kontakt zu den Bürgern und ein möglichst realistisches Lagebild des „realexistierenden Sozialismus“. Rückblickend sprach er von einer „der bewegendsten Reisen, die meine Frau Hannelore und ich in unserem Leben unternommen haben“. Sein gewonnenes Gefühl, dass „wir Deutsche zusammengehören und eine Nation sind“, sprach er schon wenige Wochen später auch beim CDU-Bundesparteitag in Wiesbaden unter großem Applaus an.
Hinzu kamen die spürbare Unzufriedenheit der Menschen mit den Lebensverhältnissen in der DDR und ein wachsendes Selbstbewusstsein gegenüber dem SED-Regime. Beides mündete wenig später in die Friedliche Revolution vom Herbst 1989. Kamen die entscheidenden Impulse für die Wiedervereinigung Deutschlands – nur rund ein Jahr später am 3. Oktober 1990 – auch von den mutigen Bürgern in der DDR, so spielte Bundeskanzler Helmut Kohl bei deren internationaler Durchsetzung die entscheidende Rolle. Er hat, frei nach „Reichsgründer“ Otto von Bismarck, den „Mantel der Geschichte“ energisch gepackt. Dabei war seine persönliche Haltung zur Einheit der Nation, in der er sich nicht zuletzt durch seine Erfahrungen in Erfurt bestärkt sah, eine wichtige Triebkraft.
So rückte Helmut Kohl für die Mehrheit jener Ostdeutschen, die sich eine schnelle Wiedervereinigung wünschten, zur unerschütterlichen Symbolfigur auf. Sie wollten keine reformierte DDR, wie große Teile der Bürgerbewegten und Linken, oder eine längere Übergangsphase, wie die SPD unter Oskar Lafontaine. Das zeigte sich beim Wahlkampfauftakt zur Volkskammerwahl am 20. Februar 1990 mit fünf folgenden Großkundgebungen mit Helmut Kohl in der DDR. Für die meisten Teilnehmer ist die Kundgebung auf dem Domplatz mit einer Rede des Kanzlers vor bis zu 130.000 begeisterten Zuhörern in einem schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer deshalb unvergessen geblieben. Die Zahl der Gegendemonstranten am Rande des Platzes blieb dagegen nach Angaben der Polizei eher bescheiden, Störversuche der linksautonomen Szene verpufften weitgehend.
Immer wieder wurde Kohl unterbrochen vom frenetischen Jubel der Masse, von „Helmut! Helmut!“- und „Deutschland, einig Vaterland!“-Rufen. Die zuvor ans Mikrofon getretenen Parteiführer der „Allianz für Deutschland“, Wolfgang Schnur (Demokratischer Aufbruch), Hans-Wilhelm Ebeling (DSU) und Lothar de Maizière (CDU), rückten dabei buchstäblich in den Hintergrund. Auch der erfahrene Politprofi Kohl selbst zeigte sich sichtbar überwältigt von diesem Empfang und untermauerte sein Bekenntnis zu rascher deutscher Einheit. Er machte aber auch mit Blick auf die marode DDR deutlich: „Wir haben einen schwierigen Weg vor uns, aber wir werden ihn gemeinsam schaffen.“ Hierüber berichtete neben den großen nationalen und internationalen Medien auch die kurz zuvor aus der SED-Bezirkszeitung „Das Volk“ hervorgegangene „Thüringer Allgemeine“ – eine wichtige Facette der politisch-gesellschaftlichen Erneuerung in Erfurt und Thüringen. Deren erster frei gewählter Chefredakteur Sergej Lochthofen erinnert sich an manche Anekdote mit dem medienerfahrenen Spitzenpolitiker Kohl.
In Erfurt hatte der aus dem „Westen“ tatkräftig unterstützte Wahlkampf damit eindrucksvoll begonnen. Er mündete am 18. März 1990 in den triumphalen Sieg der „Allianz“ aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch. Im Bezirk Erfurt erreichte die CDU weit überdurchschnittliche 56,3% (DDR-weit 40,8%). Die letzte DDR-Regierung unter Ministerpräsident Lothar de Maizière steuerte nun in Abstimmung mit der Bundesregierung ebenfalls Richtung schnelle Einheit. Matthias Gehler, Staatssekretär und DDR-Regierungssprecher, verweist auf das schwierige Verhältnis der beiden sehr unterschiedlichen Regierungschefs, die aber doch das gleiche Ziel verfolgten. Die Einheit wurde schließlich per Einigungsvertrag vom 31. August 1990 und Unterzeichnung des „Zwei-plus-Vier-Vertrages“ am 12. September 1990 in Moskau als endgültiger Friedensregelung für Deutschland am 3. Oktober 1990 vollzogen.
Die starke Stellung der Christdemokraten in der DDR, gefördert von der West-CDU unter Helmut Kohl, spiegelt sich auch bei der Wiedererrichtung kommunaler Selbstverwaltung. Die ersten freien Kommunalwahlen am 6. Mai 1990 sahen die CDU als deutlichen Wahlsieger. Sie stellte mit dem einstigen Aktivisten des Neuen Forums Manfred O. Ruge den neuen Oberbürgermeister, der gut anderthalb Jahrzehnte den Weg der Stadt in die „neue Zeit“ prägen sollte. Für viele der damals politisch Engagierten war Helmut Kohl ein Vorbild mit Charisma und Bodenständigkeit, die sich bei persönlichen Treffen eindrucksvoll entfalteten. Das unterstreichen neben Ruge auch die bei CDU und Demokratischem Aufbruch langjährig in Führungspositionen aktiven Politiker Johanna Arenhövel, Andreas Huck, Jörg Kallenbach, Michael Panse und Michael Siegel.
Nicht zuletzt der positive Patriotismus des „Kanzlers der Einheit“ gehört zu seinen bis heute vorbildhaften Charakterzügen. Dabei war dem überzeugten Europäer, dem „Architekten und Baumeister der Europäischen Union“, so die Ministerin a.D. und Erfurter Europa-Abgeordnete Marion Walsmann in ihrer Würdigung, alles Chauvinistische fremd. All dies macht Helmut Kohl auch für jüngere Menschen, wie die CDU-Stadträtin Lilli Fischer und die Bundesvorsitzende des Rings Christlich-Demokratischer Studenten Franca Bauernfeind, zur historischen Orientierungsfigur. Lange nach dem von vielen Zeitzeugen als persönlicher Schlüsselmoment erlebten Auftritt Kohls in Erfurt 1990 geboren, wissen sie doch, was sie der Vereinigung Deutschlands und Europas bei allen bleibenden regionalen Unterschieden zu verdanken haben.
Zu den bewegendsten Momenten der ungeheuer emotionalen und ereignisdichten Monate vom Herbst 1989 bis zum Herbst 1990 mit „Bürgerdialogen“, Menschenketten um die Altstadt, „Donnerstagdemos“, erster Stasi-Besetzung der DDR am 4. Dezember 1989, erwachtem Bürgergeist und demokratischem Engagement gehört zweifellos das Großereignis auf dem Domplatz am 20. Februar 1990. Es mögen seither nicht überall die euphorischen und bisweilen wohl auch unrealistischen Erwartungen mit Blick auf Helmut Kohls vielzitierte Vision der „blühenden Landschaften“ im Osten Deutschlands aufgegangen sein. Dass sich „die alte Stadt Erfurt“ wieder zu einem „blühenden Gemeinwesen“ entwickelt hat, wie es Helmut Kohl auf dem Domplatz prophezeit hat, ist jedoch unübersehbar. Und jenes zu den größten Massenkundgebungen der Stadtgeschichte zählende Ereignis steht im historischen Gedächtnis für den Aufbruch in Freiheit und Einheit 1989/90. Hieran knüpfte die Einweihung der Helmut-Kohl-Straße, nur einen Steinwurf vom damaligen Geschehen entfernt, am 20. Februar 2022 ganz bewusst an.
Steffen Raßloff: Straßennamen und historisches Gedächtnis. Die Helmut-Kohl-Straße in Erfurt. In: Helmut Kohl - 1990 - Erfurt. Leidenschaftlicher Patriot und Europäer (Schriften der KAS Thüringen). Erfurt 2022. S. 12-25.
Siehe auch: Helmut-Kohl-Straße, Erfurter Straßennamen, Geschichte der Stadt Erfurt