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Gerade in schwierigen Zeiten vermag der Fußball zudem einen Ausweg aus dem oft nüchternen Alltag zu bieten. Er kann Städten, Regionen und ganzen Nationen Stolz und Selbstbewusstsein vermitteln. So gilt der sensationelle Weltmeistertitel nach dem „Wunder von Bern“ am 4. Juli 1954 mit dem 3:2 gegen den haushohen Favoriten Ungarn als der „eigentliche Gründungsmoment der Bundesrepublik Deutschland“ ein knappes Jahrzehnt nach den Schrecken von NS-Diktatur und Zweitem Weltkrieg. | Gerade in schwierigen Zeiten vermag der Fußball zudem einen Ausweg aus dem oft nüchternen Alltag zu bieten. Er kann Städten, Regionen und ganzen Nationen Stolz und Selbstbewusstsein vermitteln. So gilt der sensationelle Weltmeistertitel nach dem „Wunder von Bern“ am 4. Juli 1954 mit dem 3:2 gegen den haushohen Favoriten Ungarn als der „eigentliche Gründungsmoment der Bundesrepublik Deutschland“ ein knappes Jahrzehnt nach den Schrecken von NS-Diktatur und Zweitem Weltkrieg. | ||
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Version vom 28. April 2024, 07:59 Uhr
Triumph in schwieriger Zeit
Turbine Erfurt gelang mit der DDR-Meisterschaft 1954 nach mehreren Anläufen der größte Erfolg der Vereinsgeschichte des heutigen FC Rot-Weiß Erfurt. Der Titelverteidigung 1955 verdanken unsere Kicker den Stern mit der 2 auf ihren Trikots. Aber unter welchen Zeitumständen wurde dieser Triumph errungen?
Fußball ist weit mehr als eine Sportart. Für viele Menschen bietet er Orientierung und Identifikation. Ein dramatisches Spiel im vollen Stadion kann zum prägenden emotionalen Erlebnis werden. So ging es dem Autor dieser Zeilen, der in den 1980er-Jahren als Jugendlicher im damaligen Georgij-Dimitroff-Stadion unvergessliche Momente mit der spielfreudigen jungen RWE-Mannschaft um das Sturmtrio Heun-Romstedt-Busse erlebte – freilich auch so manche Enttäuschung, die zum Fußball eben mit dazu gehört ...
Gerade in schwierigen Zeiten vermag der Fußball zudem einen Ausweg aus dem oft nüchternen Alltag zu bieten. Er kann Städten, Regionen und ganzen Nationen Stolz und Selbstbewusstsein vermitteln. So gilt der sensationelle Weltmeistertitel nach dem „Wunder von Bern“ am 4. Juli 1954 mit dem 3:2 gegen den haushohen Favoriten Ungarn als der „eigentliche Gründungsmoment der Bundesrepublik Deutschland“ ein knappes Jahrzehnt nach den Schrecken von NS-Diktatur und Zweitem Weltkrieg. Auch in Erfurt fieberten viele mit dem Team um Fritz Walter und Helmut Rahn mit. Dass die Stadt in der DDR lag, spielte dabei kaum eine Rolle. Den Stolz, dass Deutschland wieder im Wettbewerb der Nationen vorne mit dabei war, konnte man vom Steigerwald bis Gispersleben spüren. Wenige Wochen zuvor hatte man einen ähnlichen Triumph erlebt, der die Stadt in Hochstimmung versetzte: Im Jahr des ersten deutschen Weltmeistertitels erlangte die BSG Turbine Erfurt ihren ersten DDR-Meistertitel, den sie im Folgejahr als SC Turbine verteidigen konnte – der größte Erfolg in der Geschichte des heutigen FC Rot-Weiß Erfurt.
Ohne die beiden Ereignisse in Parallele zu setzen, hatte der Meistertitel für Turbine 1954 doch eine vergleichbare Wirkung in der Stadt, die bewegte und für viele Bewohner schwierige Jahre hinter sich hatte. Die Nachkriegszeit seit 1945 war von existenziellen Sorgen um Nahrung, Kleidung und Wohnen gekennzeichnet. Die Sowjetische Besatzungszone und 1949 gegründete DDR wurde zum totalitären SED-Staat umgeformt, was in viele Biografien tief einschnitt. Der hierauf folgende Volksaufstand vom 17. Juni 1953, der die Herrschaft „der Partei“ an den Rand des Zusammenbruchs geführt hatte, lag kaum ein Jahr zurück. Die Hoffnungen auf Freiheit und Einheit wurden auch in Erfurt mit Hilfe der Sowjetarmee brutal begraben. So wirkte die am 11. April 1954 mit einem 2:0 über die BSG Wismut Aue vor über 40.000 Zuschauern perfekt gemachte DDR-Meisterschaft der Turbine-Elf von Trainer Hans Carl mit seinen Kämpen um Heinz Grünbeck, Kapitän Helmut Nordhaus, Torschützenkönig Siegfried Vollrath, Gerhard Francke, Georg Rosbigalle, Jochen Müller und Lothar Weise wie eine Befreiung aus den vielfach bedrückenden Lebensumständen.
Der Titelgewinn war aber auch deshalb Balsam auf die Seelen vieler Fans, weil man sich durch die „Schmach von Chemnitz“ drei Jahre zuvor bereits um eine Meisterschaft betrogen fühlte. Der Tabellenerste der Oberligasaison 1950/51 hatte am 20. Mai 1951 gegen die punktgleiche BSG Chemie Leipzig trotz besseren Torverhältnisses zu einem Entscheidungsspiel in Chemnitz antreten müssen, das man ohne die gesperrten Nationalspieler Helmut Nordhaus und Wolfgang Nitsche 0:2 verlor. Selbst die SED-Bezirkszeitung „Das Volk“ kam nicht umhin, von „äußerst unglücklichen Umständen“ samt eines aberkannten regulären Führungstors zu schreiben. Die erste große Titelchance hatten die Erfurter als SG Fortuna bereits am 26. Juni 1949 im Endspiel um die Ostzonenmeisterschaft in Dresden gegen die ZSG Union Halle mit 1:4 verpasst. Am 3. September 1950 folgte im Endspiel um den FDGB-Pokal in Berlin als BSG KWU mit einem 0:4 gegen Aufsteiger SG Eisenhüttenwerk Thale ein ausgesprochene Blamage.
Fast schien es, als sei der Zenit überschritten. Als sich zur Jahreswende 1951/52 drei Stützen der Mannschaft in den Westen abgesetzt hatten, folgten zwei mittelmäßige Oberliga-Runden. Die Freude über den Titel 1954 vor Chemie Leipzig, Dynamo Dresden und Wismut Aue – eine weitere Mannschaft aus Thüringen war damals übrigens noch nicht im Oberhaus vertreten ... – war umso größer. Sie erklärt sich auch aus der Identifikation der Erfurter mit der Mannschaft. Anders als heute spielten die meist aus der Stadt stammenden Fußballer seit Jahren zusammen. Irgendwie kannte jeder einen der Spieler persönlich, die ausgeprägten Charaktere waren weithin bekannt und beliebt. Die Wirkung der Meisterschaft erklärt sich auch aus der Popularität des Fußballs. Während sich heute im Normalfall einige tausend Zuschauer im Steigerwaldstadion einfinden, waren es bei Turbine bis zu 50.000. Der inoffizielle Zuschauerrekord wurde am 1. April 1951 mit 47.390 im Oberliga-Punkspiel gegen Chemie Leipzig (1:2) aufgestellt. Bei 190.000 Einwohnern seinerzeit enorme Zahlen. Auch wenn schon damals Fans aus dem Umland kamen, so erlebte doch zeitweise jeder fünfte Erfurter regelmäßig live die Turbine-Kicker auf ihrem steinigen Weg zum ostdeutschen Fußball-Olymp.
Die Heimspiele am Sonntag – der arbeitsfreie Samstag wurde in der DDR erst 1967 eingeführt – waren zudem Ereignisse, die im Familien- und Bekanntenkreis, an der Arbeit und in der Kneipe über Tage Gesprächsstoff boten. Sicher hat hierzu auch beigetragen, dass der Fußball noch nicht mit der modernen Massenkultur samt Fernsehen und Internet konkurrieren musste. Auch die heutigen Schattenseiten mit Anfeindungen und Gewalt unter den Fans, Bedrohungen von Schiedsrichtern und Gästespielern u.ä. waren noch kein Thema. Allein der Umstand, dass die Zuschauer vom Innenraum des Stadions und untereinander nicht durch hohe Zäune und diverse Sicherheitsvorkehrungen getrennt waren, unterstreicht die sportliche Atmosphäre. (Abb. Sammlung Olaf Schwertner)
Steffen Raßloff: Triumph in schwieriger Zeit In: 1966er. Magazin über den FC Rot-Weiß Erfurt 1/2024. S. 22 f. (Schwerpunkt-Heft zum 70. Jubiläum der DDR-Meisterschaft 1954 mit weiteren Beiträgen zum Thema)
Siehe auch: FC Rot-Weiß Erfurt, Geschichte der Stadt Erfurt
Im April 2024 widmete sich eine Ausstellung in der Galerie Anger 1 dem Jubiläum 70 Jahre DDR-Fußballmeisterschaft, gestaltet von Dr. Michael Kummer und Dr. Steffen Raßloff: