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'''Erfurter Parteitag 1891''' | '''Erfurter Parteitag 1891''' | ||
Vom 14. bis 20. Oktober 1891 fand unter der Leitung von “Arbeiterkaiser” August Bebel der Erfurter Parteitag der SPD im Kaisersaal statt. Die 235 Delegierten beschlossen dabei das für Jahrzehnte wegweisende Erfurter Programm, das internationalen Vorbildcharakter trug. Die Industrialisierung hatte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer drängender die “soziale Frage” aufgeworfen. Eine Reaktion war die Entstehung der Arbeiterbewegung. Aus zwei Strömungen bildete sich 1875 in Gotha die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands. Die “rote Umsturzpartei“ galt den Eliten des Kaiserreiches von 1871 als große Gefahr. Mit dem “Sozialistengesetz” (1878-1890) versuchte Reichskanzler Otto von Bismarck, die Partei zu zerschlagen und mit einer neuen Sozialgesetzgebung die Arbeiterschaft zu „befrieden“. Das Vorhaben schlug jedoch fehl, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands - so der neue Name im Erfurter Programm 1891 - war deutlich gestärkt aus dieser Zeit hervor gegangen. Das Programm bewegte sich im für die Partei charakteristischen Spannungsfeld von marxistisch-revolutionärer Theorie und demokratisch-sozialreformerischer Praxis mit Forderungen nach Achtstundentag, Verbot der Kinder- und Nachtarbeit, Koalitions- und Wahlrecht u.ä. Letzterer Weg hat sich als der nachhaltigere erwiesen. Mit dem Godesberger Programm 1959 verabschiedete sich die SPD in der Bundesrepublik endgültig vom Marxismus und erklärte sich zur Partei von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in einer marktwirtschaftlichen Gesellschaft. | [[Datei:EPTI.jpg|350px|right]]Vom 14. bis 20. Oktober 1891 fand unter der Leitung von “Arbeiterkaiser” August Bebel der '''[[Erfurter Parteitag der SPD 1891|Erfurter Parteitag]]''' der SPD im Kaisersaal statt. Die 235 Delegierten beschlossen dabei das für Jahrzehnte wegweisende Erfurter Programm, das internationalen Vorbildcharakter trug. Die Industrialisierung hatte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer drängender die “soziale Frage” aufgeworfen. Eine Reaktion war die Entstehung der Arbeiterbewegung. Aus zwei Strömungen bildete sich 1875 in Gotha die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands. Die “rote Umsturzpartei“ galt den Eliten des Kaiserreiches von 1871 als große Gefahr. Mit dem “Sozialistengesetz” (1878-1890) versuchte Reichskanzler Otto von Bismarck, die Partei zu zerschlagen und mit einer neuen Sozialgesetzgebung die Arbeiterschaft zu „befrieden“. | ||
Das Vorhaben schlug jedoch fehl, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands - so der neue Name im Erfurter Programm 1891 - war deutlich gestärkt aus dieser Zeit hervor gegangen. Das Programm bewegte sich im für die Partei charakteristischen Spannungsfeld von marxistisch-revolutionärer Theorie und demokratisch-sozialreformerischer Praxis mit Forderungen nach Achtstundentag, Verbot der Kinder- und Nachtarbeit, Koalitions- und Wahlrecht u.ä. Letzterer Weg hat sich als der nachhaltigere erwiesen. Mit dem Godesberger Programm 1959 verabschiedete sich die SPD in der Bundesrepublik endgültig vom Marxismus und erklärte sich zur Partei von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in einer marktwirtschaftlichen Gesellschaft. (Foto: Ausstellung zum Erfurter Parteitag im Kaisersaal 2011, Dr. Steffen Raßloff) | |||
'''Erfurter Gipfeltreffen 1970''' | '''Erfurter Gipfeltreffen 1970''' | ||
Die bundesdeutsche Volkspartei SPD gab mit der neuen Ost- und Deutschlandpolitik unter Kanzler Willy Brandt (1969-1974) dem Entspannungsprozess in einer geteilten Welt wichtige Impulse. Am 19. März 1970 trafen sich Brandt und DDR-Ministerpräsident Willi Stoph in Erfurt zum ersten deutsch-deutschen Gipfeltreffen. Bei Anerkennung der Zweistaatlichkeit einer Nation sollte unter dem Motto “Wandel durch Annäherung” (Egon Bahr) das Verhältnis zur DDR verbessert und das Leben der Menschen erleichtert werden. Das Treffen im Erfurter Hof, bei dem tausende Erfurter den Bahnhofsplatz stürmten und begeistert Willy Brandt ans Fenster! riefen, fand weltweite Beachtung. Es bildete den Auftakt intensiver Verhandlungen. 1972 wurde der “Grundlagenvertrag” unterzeichnet, 1973 erfolgte die Aufnahme von Bundesrepublik und DDR in die UNO. Die internationale Anerkennung erwies sich für die DDR-Führung jedoch als zweischneidiges Schwert. Es gab fortan wieder stärkere Kontakte zum “Westen”, zudem hatte man den Spagat zwischen völkerrechtlichen Verpflichtungen und der Unterdrückung innerer Oppositionsbewegungen zu meistern. Der 1970 begonnene “Wandel durch Annäherung” mündete schließlich unter neuen weltpolitischen Bedingungen 1989/90 in die “Wende” in der DDR und die Wiedervereinigung Deutschlands. | Die bundesdeutsche Volkspartei SPD gab mit der neuen Ost- und Deutschlandpolitik unter Kanzler Willy Brandt (1969-1974) dem Entspannungsprozess in einer geteilten Welt wichtige Impulse. Am 19. März 1970 trafen sich Brandt und DDR-Ministerpräsident Willi Stoph in Erfurt zum ersten deutsch-deutschen '''[[Erfurter Gipfeltreffen|Gipfeltreffen]]'''. Bei Anerkennung der Zweistaatlichkeit einer Nation sollte unter dem Motto “Wandel durch Annäherung” (Egon Bahr) das Verhältnis zur DDR verbessert und das Leben der Menschen erleichtert werden. Das Treffen im Erfurter Hof, bei dem tausende Erfurter den Bahnhofsplatz stürmten und begeistert Willy Brandt ans Fenster! riefen, fand weltweite Beachtung. Es bildete den Auftakt intensiver Verhandlungen. 1972 wurde der “Grundlagenvertrag” unterzeichnet, 1973 erfolgte die Aufnahme von Bundesrepublik und DDR in die UNO. Die internationale Anerkennung erwies sich für die DDR-Führung jedoch als zweischneidiges Schwert. Es gab fortan wieder stärkere Kontakte zum “Westen”, zudem hatte man den Spagat zwischen völkerrechtlichen Verpflichtungen und der Unterdrückung innerer Oppositionsbewegungen zu meistern. Der 1970 begonnene “Wandel durch Annäherung” mündete schließlich unter neuen weltpolitischen Bedingungen 1989/90 in die “Wende” in der DDR und die Wiedervereinigung Deutschlands. | ||
'''Die Erfurter SPD - 150 Jahre Tradition''' | '''Die Erfurter SPD - 150 Jahre Tradition''' | ||
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Neben diesen herausragenden Ereignissen kann die Erfurter SPD auf rund 150 Jahre Geschichte zurück blicken. 1865 bildete sich eine Ortsgruppe des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV), der 1863 in Leipzig von Ferdinand Lassalle gegründet worden war. Seine Mitglieder traten der 1869 in Eisenach von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. Seit dem Gothaer Vereinigungsparteitag 1875 gehörten sie der Sozialistischen Arbeiterpartei an, die nach dem Sozialistengesetz (1878-90) im Erfurter Programm 1891 den Namen Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) festschrieb. | Neben diesen herausragenden Ereignissen kann die Erfurter SPD auf rund 150 Jahre Geschichte zurück blicken. 1865 bildete sich eine Ortsgruppe des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV), der 1863 in Leipzig von Ferdinand Lassalle gegründet worden war. Seine Mitglieder traten der 1869 in Eisenach von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. Seit dem Gothaer Vereinigungsparteitag 1875 gehörten sie der Sozialistischen Arbeiterpartei an, die nach dem Sozialistengesetz (1878-90) im Erfurter Programm 1891 den Namen Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) festschrieb. | ||
Die Sozialdemokratie fasste in der rasant wachsenden | Die Sozialdemokratie fasste in der rasant wachsenden '''[[Industriegroßstadt Erfurt|Industriegroßstadt]]''' rasch Fuß. Hatte Erfurt 1865 noch 40.000 Einwohner, stieg deren Zahl bis 1906 auf 100.000. Im zu Preußen gehörenden Wirtschafts- und Verkehrszentrum Thüringens dominierten Metall- und Textilindustrie. Besonders im Norden und Osten entstand ein fest verankertes Arbeitermilieu, das von SPD und Gewerkschaften geführt wurde. Es gab diverse Vereine, Feste und Traditionen, wie den seit 1890 begangenen '''[[Feiertag 1. Mai|1. Mai]]'''. Mit dem Volkshaus '''[[Tivoli]]''' besaß man ein Kultur- und Veranstaltungszentrum, mit der “Thüringer Tribüne” (1889-1933) eine Parteizeitung. Ihr Herausgeber war der 1880 aus Berlin ausgewiesene Schneidermeister '''[[Paul Reißhaus]]''' (1855-1921), die große Vaterfigur der Erfurter SPD. | ||
Der Erfurter Parteitag 1891 fand also in einer Hochburg der Sozialdemokratie statt. In der Reichstagswahl 1890 hatte der SPD-Kandidat 52,7 Prozent erzielt; ähnlich gute Ergebnisse konnten nur Berlin, Breslau, Hamburg, Elberfeld-Barmen, Königsberg und Magdeburg vorweisen. Im Stadtgebiet errangen die Sozialdemokraten meist absolute Mehrheiten, 1912 gelangte erstmals der SPD-Kandidat, Volksschullehrer Heinrich Schulz, im Wahlkreis Erfurt-Schleusingen-Ziegenrück in den Reichstag. Von der Erfurter Stadtverordnetenversammlung blieb die SPD wegen des undemokratischen Dreiklassenwahlrechtes in Preußen allerdings lange ausgeschlossen. 1911 zogen die beiden ersten SPD-Stadtverordneten wegen der Eingemeindung des Industrievorortes Ilversgehofen ins Rathaus ein. | Der Erfurter Parteitag 1891 fand also in einer Hochburg der Sozialdemokratie statt. In der Reichstagswahl 1890 hatte der SPD-Kandidat 52,7 Prozent erzielt; ähnlich gute Ergebnisse konnten nur Berlin, Breslau, Hamburg, Elberfeld-Barmen, Königsberg und Magdeburg vorweisen. Im Stadtgebiet errangen die Sozialdemokraten meist absolute Mehrheiten, 1912 gelangte erstmals der SPD-Kandidat, Volksschullehrer Heinrich Schulz, im Wahlkreis Erfurt-Schleusingen-Ziegenrück in den Reichstag. Von der Erfurter Stadtverordnetenversammlung blieb die SPD wegen des undemokratischen Dreiklassenwahlrechtes in Preußen allerdings lange ausgeschlossen. 1911 zogen die beiden ersten SPD-Stadtverordneten wegen der Eingemeindung des Industrievorortes Ilversgehofen ins Rathaus ein. | ||
Nach | Nach '''[[Erster Weltkrieg|Erstem Weltkrieg]]''', '''[[Novemberrevolution Erfurt|Novemberrevolution]]''' 1918 und Gründung der '''[[Weimarer Republik]]''' gewann die Partei großen Einfluss auf die Kommunalpolitik. 1919 erzielten die Sozialdemokraten mit 31 von 60 Mandaten eine absolute Mehrheit im Rathaus. Die SPD-Ortsgruppe folgte der republiktreuen Politik von Parteichef und Reichspräsident Friedrich Ebert und unterstützte den liberalen Oberbürgermeisters '''[[Oberbürgermeister Bruno Mann|Bruno Mann]]''' (1919-1933). Freilich waren viele Arbeiter nicht bereit, diesen Kurs mitzugehen. Der Konflikt über Tempo und Radikalität des Weges zum Sozialismus führte zur Spaltung in SPD und die 1919 gegründete linksextreme KPD. 1924 erreichte die KPD nach Wirtschaftskrise und Bürgerkrieg im Rathaus 10 Sitze, die SPD nur 5. Am Ende der “goldenen Zwanziger” konnte die SPD 1929 mit 10 Sitzen gegen 7 für die KPD das Verhältnis wieder umkehren. Beide verfeindeten Parteien mussten nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus 1933 in die Illegalität gehen, viele Funktionäre und Gewerkschafter wurden verfolgt. | ||
Nach Kriegsende 1945 kehrte die SPD wieder auf die politische Bühne zurück. Doch schon im April 1946 wurde sie in der Sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, mit der KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) vereint. Kritische Sozialdemokraten sahen sich Verfolgungen ausgesetzt, der Ortsvereinsvorsitzende Curt Eckardt wurde in Bautzen inhaftiert. Erst im Wendeherbst 1989 entstand in der DDR wieder eine Sozialdemokratische Partei (SDP), die im September 1990 in der gesamtdeutschen SPD aufging. In Erfurt wie in ganz Mitteldeutschland gelang es der SDP/SPD nach über fünf Jahrzehnten nicht, nahtlos an die einstige Stärke anzuknüpfen. Auch konnte die aus der DDR-Bürgerbewegung hervor gegangene Partei nicht wie PDS/Die Linke, CDU und FDP auf Organisation und Mitglieder der ehemaligen “Blockparteien” zurückgreifen. Dennoch ist es der SPD gelungen, sich wieder als wichtige kommunalpolitische Kraft zu etablieren. Seit Mai 2006 stellt sie sogar erstmals mit Andreas Bausewein den '''[[Oberbürgermeister Erfurt|Oberbürgermeister]]''' und seit 2009 die stärkste Fraktion im Stadtrat. Im Bundestag wird die Erfurter SPD seit 1998 von Carsten Schneider vertreten. | |||
'''Steffen Raßloff: | '''[[Steffen Rassloff|Steffen Raßloff]]: Erfurt und die Geschichte der SPD. Ereignisse - Erinnerungsorte - Entwicklungen.''' In: Stadt und Geschichte 38 (2008). S. 24 f. ''(leicht aktualisiert)'' | ||
''' | '''Lesetipps:''' | ||
''' | Steffen Raßloff: '''Die soziale Frage. Der Erfurter Parteitag der SPD 1891.''' In: '''[[Erfurt 55 Highlights aus der Geschichte|Erfurt. 55 Highlights aus der Geschichte]].''' Erfurt 2021. S. 80 f. | ||
Steffen Raßloff: '''[[Weimarer Republik|Bürgerkrieg und Goldene Zwanziger. Erfurt in der Weimarer Republik.]]''' Erfurt 2008. | |||
'''[ | Steffen Raßloff (Hg.): '''[[Willy Brandt ans Fenster|"Willy Brandt ans Fenster!" Das Erfurter Gipfeltreffen 1970 und die Geschichte des "Erfurter Hofes".]]''' Jena 2007. |
Aktuelle Version vom 1. Oktober 2022, 09:14 Uhr
Erfurt und die SPD
Erfurt gehört mit seinem Aufstieg zur Industriegroßstadt im 19. Jahrhundert zu den frühen Hochburgen der Sozialdemokratie. In der heutigen Landeshauptstadt Thüringens wurden zudem Meilensteine der SPD-Geschichte gesetzt, die weit über die Partei hinaus von Bedeutung sind. Der Erfurter Parteitag 1891 mit der Verabschiedung des Erfurter Programms und das erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen 1970 mit Ovationen für SPD-Kanzler Willy Brandt waren Ereignisse ersten Ranges, ihre Veranstaltungsorte, das Kultur- und Kongresszentrum Kaisersaal und das einstige Hotel Erfurter Hof, sind historische Erinnerungsorte von nationaler Bedeutung.
Erfurter Parteitag 1891
Vom 14. bis 20. Oktober 1891 fand unter der Leitung von “Arbeiterkaiser” August Bebel der Erfurter Parteitag der SPD im Kaisersaal statt. Die 235 Delegierten beschlossen dabei das für Jahrzehnte wegweisende Erfurter Programm, das internationalen Vorbildcharakter trug. Die Industrialisierung hatte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer drängender die “soziale Frage” aufgeworfen. Eine Reaktion war die Entstehung der Arbeiterbewegung. Aus zwei Strömungen bildete sich 1875 in Gotha die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands. Die “rote Umsturzpartei“ galt den Eliten des Kaiserreiches von 1871 als große Gefahr. Mit dem “Sozialistengesetz” (1878-1890) versuchte Reichskanzler Otto von Bismarck, die Partei zu zerschlagen und mit einer neuen Sozialgesetzgebung die Arbeiterschaft zu „befrieden“.
Das Vorhaben schlug jedoch fehl, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands - so der neue Name im Erfurter Programm 1891 - war deutlich gestärkt aus dieser Zeit hervor gegangen. Das Programm bewegte sich im für die Partei charakteristischen Spannungsfeld von marxistisch-revolutionärer Theorie und demokratisch-sozialreformerischer Praxis mit Forderungen nach Achtstundentag, Verbot der Kinder- und Nachtarbeit, Koalitions- und Wahlrecht u.ä. Letzterer Weg hat sich als der nachhaltigere erwiesen. Mit dem Godesberger Programm 1959 verabschiedete sich die SPD in der Bundesrepublik endgültig vom Marxismus und erklärte sich zur Partei von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in einer marktwirtschaftlichen Gesellschaft. (Foto: Ausstellung zum Erfurter Parteitag im Kaisersaal 2011, Dr. Steffen Raßloff)
Erfurter Gipfeltreffen 1970
Die bundesdeutsche Volkspartei SPD gab mit der neuen Ost- und Deutschlandpolitik unter Kanzler Willy Brandt (1969-1974) dem Entspannungsprozess in einer geteilten Welt wichtige Impulse. Am 19. März 1970 trafen sich Brandt und DDR-Ministerpräsident Willi Stoph in Erfurt zum ersten deutsch-deutschen Gipfeltreffen. Bei Anerkennung der Zweistaatlichkeit einer Nation sollte unter dem Motto “Wandel durch Annäherung” (Egon Bahr) das Verhältnis zur DDR verbessert und das Leben der Menschen erleichtert werden. Das Treffen im Erfurter Hof, bei dem tausende Erfurter den Bahnhofsplatz stürmten und begeistert Willy Brandt ans Fenster! riefen, fand weltweite Beachtung. Es bildete den Auftakt intensiver Verhandlungen. 1972 wurde der “Grundlagenvertrag” unterzeichnet, 1973 erfolgte die Aufnahme von Bundesrepublik und DDR in die UNO. Die internationale Anerkennung erwies sich für die DDR-Führung jedoch als zweischneidiges Schwert. Es gab fortan wieder stärkere Kontakte zum “Westen”, zudem hatte man den Spagat zwischen völkerrechtlichen Verpflichtungen und der Unterdrückung innerer Oppositionsbewegungen zu meistern. Der 1970 begonnene “Wandel durch Annäherung” mündete schließlich unter neuen weltpolitischen Bedingungen 1989/90 in die “Wende” in der DDR und die Wiedervereinigung Deutschlands.
Die Erfurter SPD - 150 Jahre Tradition
Neben diesen herausragenden Ereignissen kann die Erfurter SPD auf rund 150 Jahre Geschichte zurück blicken. 1865 bildete sich eine Ortsgruppe des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV), der 1863 in Leipzig von Ferdinand Lassalle gegründet worden war. Seine Mitglieder traten der 1869 in Eisenach von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. Seit dem Gothaer Vereinigungsparteitag 1875 gehörten sie der Sozialistischen Arbeiterpartei an, die nach dem Sozialistengesetz (1878-90) im Erfurter Programm 1891 den Namen Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) festschrieb.
Die Sozialdemokratie fasste in der rasant wachsenden Industriegroßstadt rasch Fuß. Hatte Erfurt 1865 noch 40.000 Einwohner, stieg deren Zahl bis 1906 auf 100.000. Im zu Preußen gehörenden Wirtschafts- und Verkehrszentrum Thüringens dominierten Metall- und Textilindustrie. Besonders im Norden und Osten entstand ein fest verankertes Arbeitermilieu, das von SPD und Gewerkschaften geführt wurde. Es gab diverse Vereine, Feste und Traditionen, wie den seit 1890 begangenen 1. Mai. Mit dem Volkshaus Tivoli besaß man ein Kultur- und Veranstaltungszentrum, mit der “Thüringer Tribüne” (1889-1933) eine Parteizeitung. Ihr Herausgeber war der 1880 aus Berlin ausgewiesene Schneidermeister Paul Reißhaus (1855-1921), die große Vaterfigur der Erfurter SPD.
Der Erfurter Parteitag 1891 fand also in einer Hochburg der Sozialdemokratie statt. In der Reichstagswahl 1890 hatte der SPD-Kandidat 52,7 Prozent erzielt; ähnlich gute Ergebnisse konnten nur Berlin, Breslau, Hamburg, Elberfeld-Barmen, Königsberg und Magdeburg vorweisen. Im Stadtgebiet errangen die Sozialdemokraten meist absolute Mehrheiten, 1912 gelangte erstmals der SPD-Kandidat, Volksschullehrer Heinrich Schulz, im Wahlkreis Erfurt-Schleusingen-Ziegenrück in den Reichstag. Von der Erfurter Stadtverordnetenversammlung blieb die SPD wegen des undemokratischen Dreiklassenwahlrechtes in Preußen allerdings lange ausgeschlossen. 1911 zogen die beiden ersten SPD-Stadtverordneten wegen der Eingemeindung des Industrievorortes Ilversgehofen ins Rathaus ein.
Nach Erstem Weltkrieg, Novemberrevolution 1918 und Gründung der Weimarer Republik gewann die Partei großen Einfluss auf die Kommunalpolitik. 1919 erzielten die Sozialdemokraten mit 31 von 60 Mandaten eine absolute Mehrheit im Rathaus. Die SPD-Ortsgruppe folgte der republiktreuen Politik von Parteichef und Reichspräsident Friedrich Ebert und unterstützte den liberalen Oberbürgermeisters Bruno Mann (1919-1933). Freilich waren viele Arbeiter nicht bereit, diesen Kurs mitzugehen. Der Konflikt über Tempo und Radikalität des Weges zum Sozialismus führte zur Spaltung in SPD und die 1919 gegründete linksextreme KPD. 1924 erreichte die KPD nach Wirtschaftskrise und Bürgerkrieg im Rathaus 10 Sitze, die SPD nur 5. Am Ende der “goldenen Zwanziger” konnte die SPD 1929 mit 10 Sitzen gegen 7 für die KPD das Verhältnis wieder umkehren. Beide verfeindeten Parteien mussten nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus 1933 in die Illegalität gehen, viele Funktionäre und Gewerkschafter wurden verfolgt.
Nach Kriegsende 1945 kehrte die SPD wieder auf die politische Bühne zurück. Doch schon im April 1946 wurde sie in der Sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, mit der KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) vereint. Kritische Sozialdemokraten sahen sich Verfolgungen ausgesetzt, der Ortsvereinsvorsitzende Curt Eckardt wurde in Bautzen inhaftiert. Erst im Wendeherbst 1989 entstand in der DDR wieder eine Sozialdemokratische Partei (SDP), die im September 1990 in der gesamtdeutschen SPD aufging. In Erfurt wie in ganz Mitteldeutschland gelang es der SDP/SPD nach über fünf Jahrzehnten nicht, nahtlos an die einstige Stärke anzuknüpfen. Auch konnte die aus der DDR-Bürgerbewegung hervor gegangene Partei nicht wie PDS/Die Linke, CDU und FDP auf Organisation und Mitglieder der ehemaligen “Blockparteien” zurückgreifen. Dennoch ist es der SPD gelungen, sich wieder als wichtige kommunalpolitische Kraft zu etablieren. Seit Mai 2006 stellt sie sogar erstmals mit Andreas Bausewein den Oberbürgermeister und seit 2009 die stärkste Fraktion im Stadtrat. Im Bundestag wird die Erfurter SPD seit 1998 von Carsten Schneider vertreten.
Steffen Raßloff: Erfurt und die Geschichte der SPD. Ereignisse - Erinnerungsorte - Entwicklungen. In: Stadt und Geschichte 38 (2008). S. 24 f. (leicht aktualisiert)
Lesetipps:
Steffen Raßloff: Die soziale Frage. Der Erfurter Parteitag der SPD 1891. In: Erfurt. 55 Highlights aus der Geschichte. Erfurt 2021. S. 80 f.
Steffen Raßloff: Bürgerkrieg und Goldene Zwanziger. Erfurt in der Weimarer Republik. Erfurt 2008.
Steffen Raßloff (Hg.): "Willy Brandt ans Fenster!" Das Erfurter Gipfeltreffen 1970 und die Geschichte des "Erfurter Hofes". Jena 2007.