Geschichte Bruehl Erfurt: Unterschied zwischen den Versionen
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[[Datei: | [[Datei:Heizwerk.jpg|350px|right]]Wenn man heute durch das beliebte Wohn-, Geschäfts- und Kulturviertel Brühl mit der Neuen Oper am Theaterplatz flaniert, kann man sich kaum vorstellen, dass sich hier noch vor wenigen Jahrzehnten ein dicht bebautes Industriegebiet ausdehnte. Als „repräsentativer Vertreter der Industriearchitektur“, so der Eintrag ins Denkmalbuch des Freistaates Thüringen, erinnert hieran das einstige Heizwerk von 1915, das als „Zentralheize“ vis-a-vis der Oper die kulturelle Strahlkraft Erfurts weiter erhöht (Foto: Zentralheize/IMK Erfurt). Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten im Brühl tausende Arbeiter zunächst Gewehre, später Schreibmaschinen und Computerchips hergestellt. Mit der weitgehenden Deindustrialisierung nach 1990 endete dieses Kapitel Erfurter Wirtschaftsgeschichte, worauf das Viertel sein Gesicht grundhaft wandelte. | ||
Doch dies war nicht die erste Metamorphose des Brühls. Vor dem Industriezeitalter hatte hier, unmittelbar hinter dem imposanten Domhügel mit seinem Ensemble aus Mariendom und Severikirche, das Gartenland der reichen und mächtigen Mittelaltermetropole begonnen. Seit dem 15. Jahrhundert befand sich der „Garten Erfurts“ innerhalb des äußeren Stadtmauerrings, um im Belagerungsfalle nicht dem Gegner in die Hände zu fallen. An jene mauerumwehrte ländliche Idylle mit ausgedehnten Gärten und Obstplantagen erinnert ansatzweise der Grünstreifen entlang des nach 1990 wieder aus seiner unterirdischen Verrohrung befreiten Bergstroms, des nördlichen Armes der Erfurt durchfließenden Gera. | Doch dies war nicht die erste Metamorphose des Brühls. Vor dem Industriezeitalter hatte hier, unmittelbar hinter dem imposanten Domhügel mit seinem Ensemble aus Mariendom und Severikirche, das Gartenland der reichen und mächtigen Mittelaltermetropole begonnen. Seit dem 15. Jahrhundert befand sich der „Garten Erfurts“ innerhalb des äußeren Stadtmauerrings, um im Belagerungsfalle nicht dem Gegner in die Hände zu fallen. An jene mauerumwehrte ländliche Idylle mit ausgedehnten Gärten und Obstplantagen erinnert ansatzweise der Grünstreifen entlang des nach 1990 wieder aus seiner unterirdischen Verrohrung befreiten Bergstroms, des nördlichen Armes der Erfurt durchfließenden Gera. |
Version vom 18. Juni 2022, 07:43 Uhr
Das Erfurter Brühl
Das Brühl wandelte sich mehrfach vom Garten der Mittelaltermetropole über das pulsierende Industrieareal bis hin zum heutigen beliebten Wohn- und Kulturgebiet.
Wenn man heute durch das beliebte Wohn-, Geschäfts- und Kulturviertel Brühl mit der Neuen Oper am Theaterplatz flaniert, kann man sich kaum vorstellen, dass sich hier noch vor wenigen Jahrzehnten ein dicht bebautes Industriegebiet ausdehnte. Als „repräsentativer Vertreter der Industriearchitektur“, so der Eintrag ins Denkmalbuch des Freistaates Thüringen, erinnert hieran das einstige Heizwerk von 1915, das als „Zentralheize“ vis-a-vis der Oper die kulturelle Strahlkraft Erfurts weiter erhöht (Foto: Zentralheize/IMK Erfurt). Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten im Brühl tausende Arbeiter zunächst Gewehre, später Schreibmaschinen und Computerchips hergestellt. Mit der weitgehenden Deindustrialisierung nach 1990 endete dieses Kapitel Erfurter Wirtschaftsgeschichte, worauf das Viertel sein Gesicht grundhaft wandelte.
Doch dies war nicht die erste Metamorphose des Brühls. Vor dem Industriezeitalter hatte hier, unmittelbar hinter dem imposanten Domhügel mit seinem Ensemble aus Mariendom und Severikirche, das Gartenland der reichen und mächtigen Mittelaltermetropole begonnen. Seit dem 15. Jahrhundert befand sich der „Garten Erfurts“ innerhalb des äußeren Stadtmauerrings, um im Belagerungsfalle nicht dem Gegner in die Hände zu fallen. An jene mauerumwehrte ländliche Idylle mit ausgedehnten Gärten und Obstplantagen erinnert ansatzweise der Grünstreifen entlang des nach 1990 wieder aus seiner unterirdischen Verrohrung befreiten Bergstroms, des nördlichen Armes der Erfurt durchfließenden Gera.
Der „Garten Erfurts“
Die weitgehend erhaltene Altstadt, an deren südwestlichen Rand sich das Brühl befindet, zeugt von der einstigen Mittelaltermetropole Erfurt. Seit alters her galt die heutige Landeshauptstadt als das „Haupt des Thüringer Landes“, wie es in Hartmann Schedels „Weltchronik“ 1493 heißt. Das florierende Handels- und Kulturzentrum, das gegenüber seinem Landesherrn, dem Mainzer Erzbischof, reichsstadtähnliche Autonomie genoss, gehörte darüber hinaus zu den größten Städten des Reiches. 1379 erhielt die Bürgerschaft das Privileg für die älteste Universität im heutigen Deutschland, deren bekanntester Absolvent Martin Luther war. Mit dessen Eintritt ins Augustinerkloster 1505 begann das Ringen um die Reformation. Auch die jüdische Gemeinde hat beeindruckende Spuren rund um die Alte Synagoge hinterlassen.
Das Brühl war zusammen mit dem südlich anschließenden Hirschbrühl zunächst ein von mehreren Armen der Gera durchzogenes Feuchtgebiet vor der Stadt. Ein Teil wurde von den Vertretern des Mainzer Erzbischofs genutzt. Insbesondere fand sich hier innerhalb der ersten Stadtmauer aus dem 12. Jahrhundert der kurmainzische Verwaltungssitz, woran der Mainzerhofplatz erinnert. Außerhalb der Mauern („extra muros“) lag anfangs die 1248 erstmals erwähnte Martinikirche mit dem Martinskloster, heute ein Wohnkomplex mit historischem Ambiente inmitten von modernen Neubauten. Die wachsende Bedeutung des fruchtbaren Gartenlandes für die fast 20.000 Einwohner der mittelalterlichen Großstadt bewog jedoch die Stadtväter, das Brühl im 15. Jahrhundert in den äußeren Mauerring einzubeziehen.
Das Industrieviertel Brühl
Im 19. Jahrhundert stieg die alte „Metropolis Thuringiae“ zur pulsierenden Industriegroßstadt auf. Eine wichtige Initialzündung war der Anschluss an das Eisenbahnnetz 1847. Erfurt dehnte sich nach der Entfestigung 1873 in alle Himmelrichtungen rasant aus und erhielt eine moderne Infrastruktur mit Kanalisation, Wasserleitung, Stromversorgung, Straßenbahn usw. Die Einwohnerzahl wuchs explosionsartig von 30.000 Mitte des 19. Jahrhunderts auf 100.000 im Jahre 1906. Um 1900 besaß Erfurt eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur mit der Metall- und Bekleidungsindustrie an der Spitze. Einige Unternehmen brachten es zu nationalen Führungspositionen oder sogar zu Weltruf, wie der Schuhkonzern Lingel und der Maschinenbaukonzern Pels.
Vorreiter der Metallindustrie war die 1862 von Saarn nach Erfurt verlegte Königlich-Preußische Gewehrfabrik. Mit der vom Militär verwalteten Fabrik im Brühl, direkt unterhalb der Zitadelle Petersberg, rückte Erfurt zu den großen Rüstungsschmieden Deutschlands auf. Während des Ersten Weltkriegs 1914-1918 waren hier bis zu 20.000 Arbeiter beschäftigt, die 1,5 Millionen Standardgewehre G 98 herstellten. 1915 ging im Zuge der Produktionssteigerung das moderne Heizwerk als Herzstück des großen Fabrikkomplexes in Betrieb. Mit der Wiederaufrüstung im Dritten Reich ab 1935 lief die Produktion noch einmal rapide an, ehe 1945 die Waffenherstellung ein Ende fand. Darüber hinaus hatte das Militär das Brühl mit Kasernen, Lagern, Schießständen und Garnison-Schwimmbad im Bergstrom mehr als ein Jahrhundert geprägt.
Die Niederlage im Ersten Weltkrieg brachte für das vom Militär beherrschte Brühl einschneidende Veränderungen. Wegen der Bestimmungen des Versailler Vertrages 1919 verlor Erfurt seinen Status als Garnisonstadt und musste die Waffenproduktion einstellen. Im Reichswerk, wie sich die Gewehrfabrik jetzt nannte, hielt man sich mit Sportwaffen und zivilen Produkten über Wasser. 1924 wurde der Staatsbetrieb aufgelöst und von der AEG ein Schreibmaschinenwerk eingerichtet. Fortan schrieb man dort über sieben Jahrzehnte buchstäblich an der Geschichte der Schreibmaschine mit. Die Produkte der Firmen AEG, Olympia (seit 1936) und Optima (seit 1950) waren international gefragt. Zeitweise rangierte das Werk im Brühl als größter Hersteller Europas.
Das Brühl in der DDR-Zeit
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 fiel Erfurt an die Sowjetische Besatzungszone, aus der 1949 die DDR als sozialistischer deutscher Teilstaat hervorging. Trotz der historischen Umwälzungen veränderte sich die Wirtschaftsstruktur kaum. Enteignung und Planwirtschaft brachten zwar tiefe Zäsuren, die dominierenden Industriezweige blieben aber erhalten. Im Brühl stellte jetzt der VEB Optima Büromaschinenwerk mit internationalem Erfolg Schreibmaschinen her. 1978 wurde er als VEB Robotron Optima Teil des Kombinates Robotron Dresden. Der auf das 1937 gegründete Telefunken-Werk zurückgehende VEB Funkwerk Erfurt stieg gleichzeitig zum Stammbetrieb des Kombinates Mikroelektronik Erfurt auf, wichtiger Träger des Hochtechnologieprogramms der DDR.
Jene erfolgreiche Entwicklung in der DDR-Bezirksstadt unter den Bedingungen staatlich gelenkter Wirtschaft schlug sich auch im Brühl deutlich sichtbar nieder. Die dichte Bebauung durch ältere Industriegebäude wurde seit den späten 1960er-Jahren durch repräsentative Neubauten ergänzt. Das Funkwerk erhielt am Gothaer Platz einen Gebäudekomplex für Verwaltung, Forschung und Betriebsgaststätte, woran heute die zwei Achtgeschosser des Technischen Rathauses erinnern. Aushängeschild der Optima wurde ein Produktionsgebäude mit Betriebsgaststätte an der Rudolfstraße, das heute als Justizzentrum dient. Für die mehr als 10.000 Optimaner und Funkwerker gab es eine soziale Infrastruktur von Kantinen und Verkaufseinrichtungen bis hin zur Betriebspoliklinik.
Freilich verkörperte das Brühl auch die zunehmend marode DDR-Industrie. Viele Anlagen waren überaltert, das mit Braunkohle betriebene Heizwerk trug zur schlechten Luft in Erfurt bei, über dem häufig eine schwefelhaltige Dunstglocke lag. Zugleich erwiesen sich die Triumphe der Planwirtschaft als international kaum tragfähige Scheinerfolge. Das galt auch für das im Brühl und seit den 1980er-Jahren am neuen Standort Erfurt-Südost mit viel Aufwand betriebene Mikroelektronikprogramm der DDR. So sorgten Erich Honeckers Worte an alle „Pessimisten“ im Lande anlässlich der Übergabe des ersten Erfurter 32-Bit-Mikroprozessors in Ostberlin am 14. August 1989 wohl bestenfalls noch für Erheiterung: „Den Sozialismus in seinem Lauf, … hält weder Ochs noch Esel auf.“
Mit der friedlichen Revolution und Wiedervereinigung 1989/90 veränderten sich schlagartig die ökonomischen Rahmenbedingungen. Das Zusammenbrechen der DDR-Wirtschaft führte zum Aus für das Büromaschinenwerk Optima und Kombinat Mikroelektronik. Ersteres verschwand schrittweise von der Bildfläche, aus letzterem konnten sich neue Unternehmen wie X-FAB in Erfurt-Südost herausbilden. Das Brühl verlor so seine Funktion als einer der größten Industriestandorte Thüringens. Damit begann das vorerst letzte Kapitel von dessen Geschichte, die Umgestaltung zum Wohn-, Geschäfts- und Kulturviertel unter Regie der Landesentwicklungsgesellschaft Thüringen (LEG). Die Einweihung der „Zentralheize“ im sanierten Heizwerk 2021 setzte dabei den Schlusspunkt.
Steffen Raßloff: Geschichte des Erfurter Brühls bis 1990. In: Das Erfurter Heizwerk im Brühl. Erfurt 2022. S. 8-35.
Siehe auch: Geschichte der Stadt Erfurt, Heizwerk Brühl, Zentralheize