Geschichte Hauptbahnhof: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 31. Mai 2014, 15:12 Uhr
Geschichte des Erfurter Hauptbahnhofs
Erfurt wurde 1847 an das Eisenbahnnetz angeschlossen. 1893 entstand der neue Hauptbahnhof, 2008 als moderner ICE-Stop wiedereröffnet.
Die Eisenbahn ist das Symbol der Industrialisierung seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie steht auch am Beginn der Entwicklung Erfurts zur modernen Großstadt. Die alte Kultur- und Handelsmetropole Thüringens, seit Jahrhunderten am Schnittpunkt wichtiger Fernhandelsstraßen gelegen, trat mit dem Anschluss an das deutsche Eisenbahnnetz 1847 in eine völlig neue Phase ihrer Geschichte. Aus der rund 30.000 Einwohner zählenden preußischen Festungsstadt wurde binnen sechs Jahrzehnten eine pulsierende Industriegroßstadt von 100.000 Einwohnern (1906). Sie entwickelte sich zum Knotenpunkt des seinerzeit wichtigsten Verkehrsmittels, wurde Sitz der preußischen Eisenbahndirektion für Thüringen, konnte die vielen Industrieansiedlungen mit Gleisanbindungen versehen und auch durch die Lokomotivenfabrik Hagans oder das große Eisenbahnausbesserungswerk mit vielen Arbeitsplätzen von der Eisenbahn profitieren.
Am Beginn dieser Entwicklung war es von weitreichender Bedeutung, dass der preußische Staat die seit 1840 geplante Eisenbahnverbindung von Halle/Saale Richtung südliche Rheinprovinz entlang der Städteachse Naumburg-Apolda-Weimar-Erfurt-Gotha-Eisenach verlegte. Ein Kreis engagierter Erfurter Bürger um Oberbürgermeister Theodor Wagner und Stadtrat Karl Herrmann hatte sich nachdrücklich dafür eingesetzt, alternative Pläne einer Streckenführung über Nordhausen oder Mühlhausen zu verhindern. Diese hätte für Preußen den Vorteil gehabt, nur durch eigenes Staatsgebiet zu verlaufen. Die der alten Königsstraße folgende Trasse über Erfurt dagegen musste im “Musterland der Kleinstaaterei” gleich mehrere Staatsgrenzen überwinden, grenzte doch allein schon Erfurt an die ernestinischen Herzog- bzw. Großherzogtümer Sachsen-Coburg und Gotha und Sachsen-Weimar-Eisenach. Nicht zuletzt Karl Herrmann ist es zu verdanken, dass das Königreich Preußen mit den thüringischen Staaten 1841 den Vertrag über die Errichtung der “Thüringischen Eisenbahn” abschloss. Ihm stand wie keineswegs allen seiner Zeitgenossen schon 1840 klar vor Augen, dass die Eisenbahnfrage “von unberechenbarer Wichtigkeit für Erfurts Zukunft ist”. Herrmann sollte auf ganzer Linie Recht behalten.
Am 22. März 1847 erfolgte die erste Probefahrt von Weimar nach Erfurt: “Nach Verlauf von nicht 1 Stunde kam der imposante Zug, begrüßt von zwei Musikchören und dem Jubel der Volksmenge auf dem hiesigen Bahnhof an.” Zielpunkt dieser für viele Zeitgenossen spektakulären Jungfernfahrt war aber nicht der heutige Erfurter Hauptbahnhof, der erst knapp fünf Jahrzehnte später seiner Bestimmung übergeben werden sollte. Die ab dem 1. April 1847 zunächst vier Züge täglich mussten noch die gewaltigen Festungsanlagen samt Wassergraben passieren. Die Bahnanlagen befanden sich im Schatten des südlich angrenzenden Festungswalles dicht gedrängt am Ende der Auguststraße, die in Bahnhofstraße umbenannt wurde. Als Bahnhofsgebäude fungierte seit 1847 das spätere Reichsbahndirektionsgebäude mit dem markanten Uhrenturm am Westende des heutigen Willy-Brandt-Platzes.
Der Bau eines modernen Hauptbahnhofes wurde erst mit der Reichsgründung 1871 und der folgenden Entfestigung Erfurts ab 1873 möglich. Innerhalb weniger Jahre verschwanden die Befestigungen und dehnte sich die aufstrebende Industriestadt weit über den alten Stadtkern aus. Nun war auch genügend Platz für die dringend nötige Erweiterung der Bahnanlagen, hatte das Verkehrsaufkommen seit 1847 doch enorm zugenommen. Von 1889 bis 1893 entstand nach Plänen von Eisenbahnbauinspektor Eduard Keil und Regierungsbaumeister Otto Erlandsen südlichöstlich vom alten Bahnhof ein Neubau im Stil der Zeit. Als Besonderheit konnte der neue Hauptbahnhof das Inselgebäude auf halber Höhe des ehemaligen Festungswalles aufweisen. Das flache Vorempfangsgebäude öffnete den Bahnhof zur Stadt. Besaß Erfurt damit ein zeitgemäßes, ansprechendes “Tor zur Stadt”, wurde der Bahnhofsvorplatz mit der Einweihung des Hotels Erfurter Hof 1905 und der Erweiterung durch das “Haus Kossenhaschen” 1916 endgültig zum repräsentativen Entree für die Reisenden (siehe Abb.).
Der Hauptbahnhof und sein unmittelbares Umfeld wurden im 20. Jahrhundert zudem mehrfach Schauplatz der “großen Geschichte”. Der weltweit für Furore sorgende Hochstapler Harry Domela gab 1926 im “Erfurter Hof” sein Meisterstück als Prinz Wilhelm von Preußen, das mehrfach literarisch und filmisch verarbeitet worden ist. In seiner Autobiographie “Der falsche Prinz” beschreibt Domela anschaulich das Geschehen in jenem “ersten Haus am Platze”, in das er als armer Gelegenheitsarbeiter vom Hauptbahnhof aus seit langem sehnsüchtige Blicke geworfen hatte. Am 19. März 1970 rückte das erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen von Willy Brandt und Willi Stoph Bahnhof und Hotel in den Fokus der internationalen Öffentlichkeit. Mit dem Sprechchor “Willy Brandt ans Fenster!” und Ovationen für den Bundeskanzler sorgten tausende Erfurter vor dem Tagungshotel für Bilder, die um die Welt gingen. Brandt bezeichnete diesen Augenblick später als den emotionalsten Moment seines Lebens. Die Verbindung von Verkehrsknotenpunkt und renommiertem Interhotel ließ den Bahnhofsvorplatz bis zum Ende der DDR ein urbanes Herzstück der Bezirkshauptstadt bleiben. Ob internationale Künstler, Friedensfahrer, westliche Politiker oder die Teilnehmer von Erich Honeckers “Staatsjagden” - viele von ihnen empfingen über den Hauptbahnhof und seine Nobelherberge vis-a-vis ihre ersten Eindrücke von Erfurt und verliehen der Stadt ein wenig vom Hauch der weiten Welt.
Letzte Zäsur in der Erfurter Eisenbahn- bzw. Bahnhofsgeschichte bildet die Weichenstellung Richtung moderner ICE-Knotenpunkt nach der deutschen Wiedervereinigung 1990. Die ICE-Verbindung Berlin-München über Erfurt wurde als Teil eines europäischen Schnellstreckennetzes in den Verkehrswegeplan Deutsche Einheit aufgenommen. Diese Entscheidung weist in Ihrer weitreichenden Bedeutung durchaus Parallelen zur Streckenplanung in den 1840er Jahren auf. Trotz der Verzögerungen des Projektes, dessen Fertigstellung sich nach aktuellem Stand noch bis 2016 hinziehen wird, ist die ICE-Strecke für den Standort Erfurt im Herzen Deutschlands und Europas von enormer Bedeutung. Der Hauptbahnhof ist bereits fit für die Zukunft als transeuropäischer ICE-Stopp. Von 2001 bis 2008 wurde für 260 Millionen € an Stelle des abgerissenen historischen Inselgebäudes eine 154 m lange und 90 m breite Halle mit Glaswänden errichtet, unter der sich ein Einkaufszentrum befindet. Mit dem neugestalteten Busbahnhof, der Tiefgarage unter dem Bahnhofsvorplatz, der zentralen Haltestelle von Stadtbahn und -bus in der Unterführung der Bahnhofstraße und einer Fahrradstation konnte der Bahnhof noch besser mit dem Individual- und Öffentlichen Nahverkehr verknüpft werden.
War auch der Abriss des Inselgebäudes durchaus umstritten und mussten aus Finanzwängen Abstriche u.a. bei der Länge der Bahnsteighalle gemacht werden, so wird das komplexe Projekt doch zweifellos als herausragender Meilenstein in die Erfurter Bau- und Verkehrsgeschichte eingehen. Die Übergabe des modernen ICE-Bahnhofes am 13. Dezember 2008 bewegte sich auf einer Ebene mit der Aufnahme des Eisenbahnbetriebes 1847 und der Inbetriebnahme des neuen Hauptbahnhofes 1893. Erfurt besitzt nunmehr wieder ein repräsentatives “Tor zur Stadt”, in dem Alt (Vorempfangsgebäude) und Neu (Bahnsteighalle und Einkaufszentrum) eine interessante Verbindung eingehen. Zugleich erlebte der jahrelang in einem traurigen Dornröschenschlaf verharrende Willy-Brandt-Platz seine Renaissance zum würdigen Entree in die Landeshauptstadt Erfurt mit ihren 200.000 Einwohnern. Die umfassende Neugestaltung 2006/07 machte aus den 4000 qm einen freundlichen, hellen Stadtplatz. Das 1995 geschlossene Traditionshotel “Erfurter Hof” wurde von 2004 bis 2007 von der Landesentwicklungsgesellschaft Thüringen aufwändig saniert und beherbergt heute als Geschäftshaus u.a. die Sparkasse Mittelthüringen und die Thüringer Tourismus Gesellschaft. Die neuen Läden, Cafés und Restaurants tragen zur Lebendigkeit des Bahnhofsumfeldes wesentlich bei. Mit der Leuchtschrift “Willy Brandt ans Fenster!” auf dem Dach des “Erfurter Hofes” soll schließlich weithin sichtbar an die große Geschichte dieses Platzes erinnert werden. (Foto: Alexander Raßloff)
Text nach: Steffen Raßloff: Das "Tor zur Stadt" im Wandel der Zeit. In: Beate Hövelmans: Freie Bahn. Abriss und Neubau des Erfurter Hauptbahnhofes. Erfurt 2009. S. 9-11.
Siehe auch: Hauptbahnhof Erfurt in der Serie "Denkmale in Erfurt", Bilder zum Umbau des Hauptbahnhofes 2003-2006