Preussen Erfurt: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 10. November 2009, 16:32 Uhr
Preußen in Erfurt 1802-1945
Von 1802 als Folge der napoleonischen Kriege bis zum Ende des II. Weltkrieges 1945 gehörte die Stadt Erfurt zu Preußen. Der folgende Beitrag soll zeigen, dass und warum sich hierbei zumindest in Teilen der Bevölkerung ein ausgesprochener preußischer Landespatriotismus herausgebildet hatte.
Die Festzeitschrift zur Erfurter Preußen-Jahrhundertfeier vom 21. August 1902 zierte ein Paradebeispiel wilhelminischer Feiertagslyrik, welches Geschichtsbild und Landesbewusstsein vieler Erfurter zum Ausdruck brachte: "Im Herzen Deutschlands pulste dein Bürgerfleiß, - Und aus dem Keim schoß schwellend das schönste Reis, - Da Handel und Gewerb` im Bunde - Dich schuf zum Vorort auf deutschem Grunde. - Aus Geistesdämmrung schwelltest du frei empor, - Den Geistesfunken, welcher die Macht beschwor. - Und aufgehellt ins fernste Thule, - Stätte der herrlichsten hohen Schule. - Dann kam der Frost, der arg deine Kraft versehrt: - Voll auszureifen wurde dir nicht beschert; - Bis endlich, spät dein Leid zu sühnen, - Wieder dir wurde ein neues Grünen. - Das brach aus alten Trieben von frischem aus, - Seit dich beschirmt das mächtige Zollernhaus, - Und schöner, als du`s je erfahren, - Hob sich dein Wohlstand seit hundert Jahren."
Zunächst wird die mittelalterliche Blütezeit Erfurts als autonomes, reichsstadtähnliches Handels- und Kulturzentrum, als drittälteste deutsche Universitätsstadt (1392) angesprochen. Diesen Stolz der Bürgerschaft koppelt der Dichter aber ausdrücklich an die zweite Blütezeit, nämlich die "Preußenzeit". Dazwischen schiebt sich jener "frostige" Abschnitt des allmählichen Niedergangs und der Unterwerfung unter den kurmainzischen Stadtherren 1664. Man setzte also die Entwicklung zur prosperierenden Industriestadt, zur modernen Metropole, in enge Verbindung mit dem landesherrlichen Wechsel von 1802.
Im Text der Festzeitschrift erhebt Stadtarchivar Prof. Dr. Alfred Overmann (1866-1946) die Preußenzeit sogar zum absoluten Höhepunkt der Stadtgeschichte: "Thüringens Hauptstadt feiert einen Jubeltag, der einzig dasteht in der Geschichte der Stadt [...] Für Erfurt brach mit der Vereinigung mit dem Königreich Preußen eine neue Geschichte an, [...] segensreicher als alle früheren Zeitläufe, mögen sie noch so glänzend erscheinen." Mag es sich hierbei um zeittypische Jubeltagspublizistik handeln, kommt dem historischen Grundmuster - mittelalterliche Blüte, frühneuzeitlicher Verfall, neuzeitlich-preußisches Wiederaufblühen - doch Repräsentativität zu. Und dem Geschichtsbild entsprach ein fest verwurzeltes Landesbewusstsein. Der "Festgruß zum 21. August" des "Erfurter Allgemeinen Anzeigers" (siehe Bild) brachte die unverbrüchliche "alte Preußentreue" reimend auf den Punkt: "Zum Fest geschmückt prangst Du in grünen Zweigen, - Und Preußens Farben flattern hoch vom Mast, - Sie künden´s, daß - wie auch die Wolken treiben - All´ deine Bürger echte Preußen bleiben!"
Diese Einstellung ließ sich mit den ohnehin eher vagen thüringischen Heimatgefühlen durchaus vereinbaren. Hohe Bedeutung ist hierbei dem traditionellen Zentralortbewusstsein der Erfurter beizumessen, das Overmann ausdrücklich mit Preußen in Übereinklang brachte. So beschloss er eine 1902 verfasste Monographie ("Die ersten Jahre der preußischen Herrschaft in Erfurt 1802-1806") mit dem Fazit: "Gerade Erfurt, mitten in dem klassischen Lande deutscher Kleinstaaterei gelegen, hat erfahren, welch ein Segen es ist, einem großen Staatswesen anzugehören. Wenn es heute mit derselben Berechtigung, wie in den glanzvollen Tagen des Mittelalters, [...] unbestritten als die Hauptstadt Thüringens gilt, so verdankt es das neben der Intelligenz und der Arbeitsamkeit seiner Bewohner in erster Linie der unausgesetzten Fürsorge, die der führende deutsche Staat ihm hat zu Teil werden lassen".
Ohnehin galten die 1816 in der Provinz Sachsen zusammengeschlossenen Gebiete Mitteldeutschlands als rasch "borussifiziert". Selbst innerhalb Preußisch-Thüringens fiel die Neuorientierung den Bürgern der vormaligen Reichsstädte Mühlhausen und Nordhausen oder den katholischen Eichsfeldern schwerer. Zudem wurde die erneute Wiederinbesitznahme nach der französischen Besatzungszeit 1806 bis 1814 von den Erfurtern mehrheitlich als Befreiung empfunden. Der endgültig mit dem Wiener Kongress 1815 vollzogene Landeswechsel machte die Stadt überdies zur Hauptstadt des Regierungsbezirkes Erfurt, der an Einwohnerzahl und Fläche alle der ab der Jahrhundertmitte immerhin noch acht thüringischen Kleinstaaten übertraf. Da es auch über die Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 hinaus bei der starken Zersplitterung Thüringens blieb, gab es bis 1918 für die lokalstolze Bürgerschaft der einzigen Großstadt (seit 1906) keine anziehende Alternative zu Preußen, das wie eine "Spinne im Kleinstaatennetz" (Hans-Werner Hahn) die Region beherrschte.
Allerdings war die Stadt lange Zeit eine Hochburg des Liberalismus und der Demokraten, was immer wieder zu Spannungen mit der Obrigkeit führte. Nach dem blutigen Revolutionsjahr 1848 kam es jedoch in maßgebenden Kreisen der Bürgerschaft zu einem allmählichen Wandlungsprozess; insbesondere die wohlhabende und gebildete Honoratiorenschicht orientierte sich zunehmend am Konservativismus und Nationalliberalismus, wobei die Bismarcksche Reichseinigung 1871 einen entscheidenden Einschnitt darstellte. Man identifizierte sich jetzt, nicht zuletzt auch mit Blick auf die rasant anwachsende Industriearbeiterschaft und die "umstürzlerische" Sozialdemokratie, weitgehend mit der preußischen Monarchie und dem glanzvoll-pompösen Deutschen Kaiserreicheich der Hohenzollern.
Zudem hatte der preußische Staat seit 1802 zahlreiche Beamte v.a. aus den Ostprovinzen nach Erfurt versetzt, die die Staatsgesinnung festigen sollten. Diese Rechnung scheint partiell aufgegangen sein. Insbesondere die große Garnison war vielen Bürgern mit ihren Uniformen, Paraden und Sonntagskonzerten (und wohl auch wegen der wirtschaftlichen Bedeutung) besonders ans Herz gewachsen. Oberbürgermeister Dr. Hermann Schmidt (1895-1919) äußerte in seiner Festrede vom 21. August 1902, dass "die Soldaten hier wohl die populärste Einrichtung sind, die es giebt". Nach Ansicht des Volkskundlers und Lokalhistorikers Prof. Dr. Martin Wähler (1889-1953) sollen Beamte und Militär die Mentalität der Erfurter gar derart beeinflusst haben, daß sie in Thüringen als "fremd" und "norddeutsch" gegolten hätten.
Solche Grundhaltungen wurden nicht unwesentlich durch die Lokalgeschichtsschreibung und ihren wichtigsten Träger, den 1863 gegründeten "Verein für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt", geprägt. Langjähriger Spiritus Rector und Vorsitzender war Gymnasialdirektor Prof. Dr. Johannes Biereye (1860-1949), die wohl angesehenste bildungsbürgerliche Persönlichkeit des ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bei ihm verbanden sich beispielhaft ein tiefes thüringisch-erfurtisches Heimatgefühl mit konservativ-monarchischem Preußentum. Als Kulturträger fanden sich zudem auch höhere Beamte und Offiziere. Genannt sei als herausragender Vertreter Wilhelm Freiherr von Tettau (1804-1894). Der in Westpreußen gebürtige Dirigent der Abteilung des Inneren in der Bezirksregierung war 1848 wesentlich an der Niederschlagung der Erfurter Unruhen beteiligt gewesen und stand für den anschließenden Trend einer Annäherung zwischen Regierung und Bürgerschaft. Vom "bestgehaßten Mann in Erfurt" brachte es der erste Geschichtsvereinsvorsitzende (1863-94) im Laufe der Zeit zur "populärsten Persönlichkeit der Stadt", schreibt zumindest Gymnasial-Professor August Hoffmann 1913.
Zur Nagelprobe für die "alte Preußentreue" sollte die thüringische Landesbildungsphase 1918/20 bzw. die Reichsreformdiskussionen der Weimarer Republik (1918-1933) werden. Die Novemberrevolution 1918 brachte auch das Ende der regierenden Fürstengeschlechter in Thüringen. Damit war ein wesentliches Hindernis für die Flurbereinigung aus dem Wege geräumt. Eine am 5. Januar 1919 in Erfurt stattfindende Kundgebung einflussreicher bürgerlicher Interessengruppen zeugte von "einem starken einheitlichen Willen zur Schaffung eines Einheitsstaats Thüringen". Einige wenige Gegenstimmen kamen jedoch deutlich vernehmbar aus Kreisen der rechtsliberal-konservativen Honoratiorenschaft Erfurts. Justizrat Dr. Karl Weydemann brachte sein Bedauern über die Vertreibung der Hohenzollern zum Ausdruck, sprach von den Gefahren, die drohen würden, wenn "wir Preußen uns in die Kleinstaaterei begeben". Darauf schloss er in Anspielung auf das populäre "Preußenlied": "Ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein!"
Linksliberale Teile des Bürgertums sahen dies aber zunächst anders. Am 24. Januar 1919 propagierte ausgerechnet Overmann auf einer Versammlung der neuen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) die Bildung Großthüringens. Allerdings räumte er hierbei die Skepsis vieler Erfurter ein: "Aus der stolzen Großmacht Preußen sollen die preußischen Thüringer in ein verhältnismäßig bescheidenes Staatsgebilde übertreten." Diese Vorbehalte erwiesen sich schnell als nachhaltiger. Auf seiner Sitzung vom 7. März sprachen sich die Stadtverordneten "gegen eine Loslösung von Stadt und Bezirk Erfurt aus dem Verband des preußischen Staats nachdrücklich" aus. Mit dem Scheitern preußisch-thüringischer Verhandlungen und der Beibehaltung der föderalen Reichsstruktur schien der "Einheitsstaat Thüringen" 1919/20 ohnehin vorerst ad acta gelegt.
Andererseits war das in Erfurt noch immer emotional tief verwurzelte "alte Preußen" auf staatlicher Führungsebene weitgehend untergegangen, herrschten in Berlin jetzt SPD, linksliberale Demokraten (DDP) und katholisches Zentrum. Dennoch betrachteten große Teile der Bürgerschaft dies angesichts der Entwicklungen im 1920 gegründeten Freistaat Thüringen als das kleinere Übel. 1921 war es in Weimar zu einer von den Kommunisten tolerierten SPD-USPD-Regierung gekommen, die man erbittert bekämpfte. Den traumatischen Höhepunkt dieser Phase des "roten Thüringens" bildete die kurzzeitige "Volksfront"-Regierung aus SPD und KPD im Herbst 1923.
Die Diskussionen um eine Einigung Thüringens oder Mitteldeutschlands flackerten ab 1927 noch einmal merklich auf. Als Mitteldeutschland, nunmehr das zentrale Schlagwort, betrachtete man abweichend vom heutigen Verständnis oft die Länder Thüringen und Anhalt sowie die Provinz Sachsen. Hätte sich mancher Erfurter mit einem solchen (von Erfurt aus geführten) preußischen Territorialgebilde durchaus anfreunden können, blieb auch ein preußisches "Großthüringen" im Gespräch. Allerdings erwiesen sich die Hemmnisse für eine Neugliederung des Reiches als zu stark. Mit der Beseitigung des Föderalismus im Dritten Reich (1933-1945) verlor die Landeszugehörigkeit Erfurts an Bedeutung; der Einfluss des "gleichgeschalteten" preußischen Staatsapparates ging zurück. 1944 erlangte der NSDAP-Gauleiter Fritz Sauckel auch offiziell die Befugnisse eines Oberpräsidenten für Preußisch-Thüringen. An eine formale Abtrennung war allerdings nicht zu denken, da Hitler am Wiederaufleben der Länderreformdebatten nicht interessiert war. So blieben die Erfurter bis zur Auflösung des preußischen Staates 1945/47 "echte Preußen".
Literatur
Horst Moritz/Steffen Raßloff: Preußen in Erfurt 1802-1918. Stadt und Geschichte. Sonderheft 4 (2002).
Steffen Raßloff: Landesbewusstsein und Geschichtsbild im preußischen Thüringen. Das Erfurter Bürgertum 1871-1918. In: Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen. Köln/Weimar/Wien 2005. S. 45-64.