Stasi Besetzung Erfurt 4. Dezember 1989

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Aus den Fesseln der Angst befreit.

Die Besetzung der Stasi-Bezirksverwaltung Erfurt am 4. Dezember 1989 war ein Ereignis von DDR-weiter Signalwirkung.


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30 Jahre nach der friedlichen Revolution geht der Blick zurück auf den „Wende“-Herbst 1989. Die Ereignisse in der DDR und der Prozess der deutschen Wiedervereinigung markieren eine tiefe Zäsur in der deutschen Geschichte. Sie bilden den Wendepunkt vom besetzten und geteilten Nachkriegsdeutschland seit 1945 hin zur souveränen, fest in das westliche Bündnissystem integrierten Bundesrepublik von heute. Zugleich symbolisieren sie den Zusammenbruch des Ostblocks unter Vorherrschaft der Sowjetunion und damit auch der weltweiten Ost-West-Konfrontation.

Sicher spielten die weltpolitischen Wandlungen eine wichtige Rolle – gleichwohl war die friedliche Revolution aber doch ganz wesentlich ein Werk der Menschen in der DDR. Für viele stellt sie einen besonderen, ungeheuer intensiven und emotionalen Lebensabschnitt dar. Erwachter demokratischer Bürgergeist, die Befreiung aus starren Konventionen, Grenzen und Ängsten, ganz neue persönliche Perspektiven, rasante Entwicklungen bis hin zur Euphorie des Mauerfalls und der Einheit bleiben unvergessen.

Nicht zuletzt wurden die 1952 in der DDR aufgelösten Länder Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen wieder ins Leben gerufen. Mit der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 trat so auch das das Bundesland (seit 1993 „Freistaat“) Thüringen aus den Bezirken Erfurt, Gera und Suhl sowie den Kreisen Altenburg, Schmölln und Artern ins Leben. Viele Thüringer begrüßten dies freudig, war doch das landsmannschaftliche Bewusstsein hier ähnlich wie in Sachsen besonders stark ausgeprägt.

Freilich gingen nicht alle weit gespannten Hoffnungen auf. Der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft unter Regie der Treuhand sorgte für Abwanderung und Arbeitslosigkeit, die Übernahme des westdeutschen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems riss viele Menschen aus gewohnten Lebensbahnen. Mancher empfand die neue Freiheit gegenüber der rasch verklärten „heilen Welt der Diktatur“ (Stefan Wolle) als Belastung. So mancher Bürgerbewegte wiederum sah mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Chancen auf eine durchgreifende Erneuerung vertan. Auch drei Jahrzehnte später lassen sich noch immer Unterschiede in Lebenswelt und Mentalität zwischen Ost und West nicht verleugnen.

Umso wichtiger ist es daran zu erinnern, warum und wie die Menschen im Herbst 1989 der SED-Diktatur ein Ende bereiteten und mit überwältigender Mehrheit die Vereinigung der beiden deutschen Staaten auf Basis der freiheitlich-demokratischen, marktwirtschaftlichen Grundordnung der Bundesrepublik begrüßten.

All dies gilt natürlich auch für Thüringen. Die drei südwestlichen DDR-Bezirke gehörten vor dem Mauerfall am 9. November 1989 freilich nicht zu den wichtigsten Impulsregionen der Wende, wie die weltoffeneren Metropolen Berlin, Leipzig oder Dresden. In den Grenzbezirken zur Bundesrepublik führten die SED- und MfS-Funktionäre ein straffes Regiment. Im Gegensatz zu Hoffnungsträgern wie Hans Modrow in Dresden galten die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen Gerhard Müller (Erfurt), Herbert Ziegenhahn (Gera) und Hans Albrecht (Suhl) als ausgesprochene „Hardliner“.

Dennoch lassen sich die spannenden, ereignisdichten Entwicklungen jener Monate auch hier lebendig nachvollziehen. Nach dem Zusammenbruch der Parteiherrschaft fand Thüringen zudem rasch Anschluss an die allgemeine Entwicklung. Mehr noch, es setzte mit der ersten Besetzung einer MfS-Bezirksverwaltung in Erfurt am 4. Dezember 1989 das DDR-weit ausstrahlende Signal, die letzte gefürchtete Bastion der SED-Herrschaft zu stürmen.

Noch immer verblüfft dabei die weitgehende Gewaltlosigkeit der friedlichen Revolution. In der Rückschau muss man aber betonen, dass dies für die Akteure keineswegs abzusehen war. Insbesondere das „Schild und Schwert der Partei“, das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), hatte über Jahrzehnte eine Atmosphäre der Angst und Verunsicherung verbreitet. In den drei thüringischen Bezirken arbeiteten 1989 bis zu 7000 hauptamtliche Mitarbeiter und 19.000 Inoffizielle Mitarbeiter (IM) in erster Linie an der Bespitzelung der Bevölkerung.

In Erfurt stand die Andreasstraße als Synonym für die Stasi. Hier war in der heutigen Landespolizeidirektion die Bezirksverwaltung des MfS unter Generalmajor Josef Schwarz untergebracht. Auch als die Bürgerbewegung längst ihren Protest aus den Kirchen auf die Straße verlagert hatte, wurde hier weiter der Kampf gegen die „Konterrevolution“ geplant. Dies reichte bis hin zu Internierungslagern für namentlich erfasste Regimekritiker und der militärischen Verteidigung der Stasi-Objekte.

Die Erfurter Donnerstagsdemos erreichten unterdessen am 26. Oktober 1989 ihren ersten Höhepunkt, als 40.000 Menschen auf dem Domplatz ihre Kritik an den Verhältnissen im Lande lautstark äußerten. Am 10. und 11. November mussten Oberbürgermeisterin Rosemarie Seibert und Bezirkschef Gerhard Müller zurücktreten. Mit dem Berliner Mauerfall vom 9. November schien das Schicksal der DDR besiegelt.

Dennoch blieben die MfS-Einrichtungen noch unbehelligt. Erst unerschrockene Erfurter Bürgerinnen machten auch hier den Weg frei, sich endgültig „aus den Fesseln der Angst“ zu befreien, wie es auf einer Gedenktafel in der Andreasstraße heißt. Hier fand an jenem besagten 4. Dezember 1989 die erste Besetzung einer Stasi-Bezirkszentrale statt, was innerhalb weniger Tage ähnliche Aktionen in den meisten Bezirken und Kreisen des Landes nach sich zog.

Kerstin Schön, Mitglied der Gruppe Frauen für Veränderung, rief in den Morgenstunden ihre Mitstreiterin Almuth Falcke an, Ehefrau des bekannten evangelischen Theologen und Propstes Dr. Heino Falcke. Dicker Rauch aus den Schornsteinen des Stasi-Objektes ließ sie eine umfassende Aktenvernichtung vermuten. Nun galt es zu handeln!

Mit anderen Frauen aus ihrer Gruppe, wie Barbara Weißhuhn (heute Sengewald), Angelika Schön, Elisabeth Kaufhold, Gabriele Kachold (heute Stötzer), Petra (Tely) Büchner, Sabine Fabian und Claudia Bogenhardt, mobilisierten sie die Erfurter. Almuth Falckes Mann versperrte die Ausfahrt mit seinem Auto, ehe ein Müllfahrzeug dies übernahm. Rat der Stadt, Staatsanwaltschaft und Oberbürgermeister wurden alarmiert.

Schließlich gelangen nach durchaus bangen Stunden die Besetzung des Gebäudes und die Versiegelung der Räume, ohne dass die MfS-Mitarbeiter Widerstand geleistet hätten. Noch am selben Abend wurde ein Bürgerkomitee zur Auflösung des MfS gegründet. Mit dieser mutigen Aktion konnte die Vernichtung der Stasi-Akten gestoppt und dem Geheimdienst sein Schrecken weitgehend genommen werden.

Im ehemaligen Stasi-Untersuchungsgefängnis erinnert heute die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße der Stiftung Ettersberg an jene denkwürdigen Ereignisse (Foto: Alexander Raßloff). Sie ist zum einen den mehr als 5000 Menschen gewidmet, die hier aus politischen Gründen inhaftiert waren, macht aber auch deutlich, dass in Erfurt am 4. Dezember 1989 die Freiheit symbolträchtig triumphierte.


Dr. Steffen Raßloff: "Aus den Fesseln der Angst befreit." Die Besetzung der Stasi-Bezirksverwaltung Erfurt am 4. Dezember 1989. In: TOP Magazin Thüringen 4/2019, S. 20 f.


Lesetipp:

Steffen Raßloff: Friedliche Revolution und Landesgründung in Thüringen 1989/90. Erfurt 2009 (6. Auflage 2016).

Steffen Raßloff: Geschichte Thüringens. München 2010 (2. Auflage 2020).

Steffen Raßloff: Geschichte der Stadt Erfurt. Erfurt 2012 (5. Auflage 2019).


Siehe auch: Gedenktafel für Stasi-Besetzung, Gedenkstätte Andreasstraße, Geschichte der Stadt Erfurt, Geschichte Thüringens