Pädagogische Akademie Erfurt

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Pädagogische Akademie Erfurt (1929-1932)

Die Pädagogische Akademie Erfurt schrieb 1929-1932 Pädagogikgeschichte, indem sie wie in einigen weiteren preußischen Städten erstmals die Volksschullehrer-Ausbildung auf Hochschulniveau hob.


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Erfurt besitzt eine weit zurückreichende Tradition der Lehrerausbildung. Zwischen 1953 und 2001 wurden tausende junge Frauen und Männer an der Pädagogischen Hochschule Erfurt (1953-69 Pädagogisches Institut Erfurt) auf den Schuldienst vorbereitet. Die Lehrerausbildung ging danach nahtlos an die Universität Erfurt über, wo sie heute in das moderne BA/MA-Studienmodell integriert ist. Freilich reicht diese pädagogische Hochschultradition noch weiter zurück – bis zu der weitgehend in Vergessenheit geratenen Pädagogischen Akademie Erfurt 1929/32. Diese bildet zugleich ein kurzes Intermezzo der Erfurter Hochschulgeschichte zwischen Alter Universität (1379-1816) und Gründung der beiden DDR-Hochschulen (Pädagogische Hochschule 1953, Medizinische Akademie 1954), an deren Tradition seit 1994 teilweise die wiedergegründete Universität anknüpft.

Mit der Pädagogischen Akademie 1929/32 hat Erfurt zusammen mit einigen anderen Städten deutsche Schul- bzw. Pädagogikgeschichte geschrieben – wurden hier doch erstmals auch Volksschullehrer an einer Hochschule ausgebildet. Bis dahin galt die Volksschule als elementare Bildungseinrichtung für die große Bevölkerungsmehrheit ohne Zugang zu höherer Bildung und besaß zugleich der Beruf des Volksschullehrers eher geringes Ansehen. Er kam selbst aus der achtklassigen Volksschule und kehrte nach Präparandenanstalt und Lehrerseminar bald wieder dorthin zurück, um vor 50 und mehr Schülern zu unterrichten.

Obwohl es im Kaiserreich nach 1871 auch in Erfurt deutliche Verbesserungen, nicht zuletzt durch eine Reihe von Schulneubauten, gab, blieben die Rahmenbedingungen doch im Kern unverändert. So kristallisierte sich als eine Hauptforderung reformorientierter Pädagogen und Bildungspolitiker die Durchsetzung der Hochschulbildung für Volksschullehrer heraus. In der Zeit der Weimarer Republik 1918-1933 sollte diese Forderung im Rahmen einer angestrebten “grundlegenden Umgestaltung des Bildungswesens” (Regina Pannke) umgesetzt werden, auch wenn die angehenden Volksschullehrer noch nicht den Weg auf die Universitäten nehmen konnten.

Zum Vorreiter wurde das Land Preußen, dem Erfurt seit 1802/15 angehörte. Nach dem Scheitern reichseinheitlicher Regelungen richtete der preußische Staat in Bonn, Elbing, Kiel und Frankfurt/M. ab 1926 die ersten Pädagogischen Akademien für Volksschullehrer ein. Im November 1927 vermeldete die Thüringer Allgemeine Zeitung (TAZ), dass weitere Einrichtungen folgen sollen. Die Stadt Erfurt sah hierin die Chance, an ihre großen Hochschultraditionen anzuknüpfen.

Im September 1928 besiegelte die Stadt nach intensiven Bemühungen, nicht zuletzt von Oberbürgermeister Dr. Bruno Mann (1919-1933), einen Vertrag mit dem preußischen Staat über die Errichtung einer evangelischen Pädagogischen Akademie, in dem sich die Kommune zu erheblicher Teilnahme an der Finanzierung verpflichtete. Daraufhin konnte am 11. Mai 1929 in Anwesenheit von Volksbildungsminister C. H. Becker die Eröffnung der Pädagogischen Akademie Erfurt zunächst in der Predigerkirche und dann im Stadthaussaal gefeiert werden.

Einen wichtigen Beitrag hatte die 1754 gegründete Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt geleistet. Präsident Prof. Dr. Johannes Biereye, Direktor des Erfurter Gymnasiums, zählte in seiner Akademie-Geschichte von 1930 das Anknüpfen an “alte pädagogische Traditionen unserer Stadt” zu den vornehmsten Aufgaben seiner Gelehrtengesellschaft, wobei die Ansiedlung der Pädagogischen Akademie einen erfreulichen Höhepunkt darstelle. Seit 1926 existierte eine Abteilung für Erziehungswissenschaft und Jugendkunde, die rege Veranstaltungs- und Publikationsaktivitäten entfaltete. So sprachen auf der “Erfurter erziehungswissenschaftlichen Herbsttagung” im Oktober 1927 namhafte Pädagogen wie Peter Petersen (“Jena-Plan”) zum Thema “Das Jugendalter, sein Wesen und seine Bildsamkeit”. Im 175. Jahr ihres Bestehens konnte die traditionsreiche Erfurter Akademie nun nach all diesen Bemühungen einen ihrer größten bildungspolitischen Erfolge feiern.

In einer “Entschließung” der Akademie zur Gründung der Pädagogischen Akademie 1929 wird auf weitere Vorteile hingewiesen, die für Erfurt sprechen, obwohl dieses keine Universitätsstadt mehr war – das sollte eigentlich der Regelfall für eine Ansiedlung sein. Genannt werden die zahlreichen Kultureinrichtungen der zentral gelegenen, pulsierenden Großstadt, die Museen, das Stadttheater, die traditionsreiche Stadtbibliothek, nicht zuletzt auch das vergleichsweise gut ausgebaute Schulwesen einschließlich einer Volkshochschule, die 1919 von der Erfurter Lehrerschaft und der Akademie gegründet worden war. Große Teile nicht nur des Bildungsbürgertums sahen in der neuen Akademie auch so etwas wie eine legitime Entschädigung für die Schließung der Universität durch den preußischen Staat im Jahre 1816. Minister Becker hatte diese Haltung in seiner Eröffnungsrede bestätigt, indem er ausdrücklich eine historische Linie “von der Universität zur Pädagogischen Akademie” zog.

An der Akademie lehrten unter der Leitung von Akademiedirektor Prof. Dr. Wilhelm Bruhn (1876-1969) insgesamt 12 hauptamtliche und vier nebenamtliche Lehrkräfte. Die Zahl der Studenten, von denen nur zwei jeweils im Mai aufgenommene Jahrgänge ihr Studium in Erfurt beenden konnten, belief sich auf insgesamt 219. Sie waren überwiegend männlich und stammten aus dem bürgerlichen Mittelstand der Stadt und Region. Untergebracht wurde die Akademie zunächst im alten Lehrerseminar in der Regierungsstraße, der späteren Orthopädischen Klinik. Ein großzügiger Neubau für ca. 300 Studenten am Beethovenplatz befand sich in Planung. Als praktische Ausbildungsschulen fungierten die evangelische Volksschule X (Lutherschule) und die evangelische Volksschule Dittelstedt.

Zwar blieb die zweijährige Ausbildung der Volksschullehrer weiter hinter dem Universitätsstudium für “höhere Schulen” zurück. Dennoch bildeten die Akademien, für die man nun das Abitur als Zugangsvoraussetzung besitzen musste, einen deutlichen Fortschritt gegenüber den alten Lehrerseminaren. Sie galten jetzt laut einer Denkschrift des preußischen Volksbildungsministeriums als “Pflegestätten der Pädagogik”, die ihren Absolventen gediegene Fachkenntnisse auf den Weg ins Berufsleben mit geben und sie zu “Lehrerpersönlichkeiten” herausbilden sollten. Von angesehenen Fachleuten, wie Volkskundler Martin Wähler (1889-1953) und Geograph Ernst Kaiser (1885-1961) – beide gleich Direktor Bruhn auch Mitglied der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften –, als Lehrkräften getragen, verlieh die Akademie dem Kulturleben der Stadt Erfurt und ganz Thüringens neue Impulse.

Wähler und Kaiser erfüllten als Lehrer wie als Wissenschaftler geradezu idealtypisch die weitere Forderung des Staates an die Akademien, “zu Pflegestätten heimatlicher Natur und Kultur und heimatlichen Volkstums” zu werden. Ernst Kaiser gehörte zu den besten Kennern der thüringischen Heimatkunde. Mit seiner “Landeskunde von Thüringen” (1933) legte er ein bis heute lesenswertes Standardwerk vor. Martin Wähler zählte zu den profiliertesten Volkskundlern der Zeit. Mit “Der deutsche Volkscharakter” (1937) und “Thüringische Volkskunde” (1940) brachte er ebenfalls grundlegende Fachpublikationen heraus. Bei beiden ist freilich die starke Prägung durch völkische Vorstellungen seit dem Ersten Weltkrieg nicht zu übersehen, die jedoch für das bildungsbürgerliche Selbstverständnis der Zeit durchaus typisch waren. Es galt aus ihrer Sicht in einer Zeit nationaler Niederlage und Unterdrückung die vermeintlich dauerhaften, in “Blut und Boden” wurzelnden Eigenschaften des Deutschen und Thüringers zu bewahren und die Liebe zur Heimat zu pflegen, wozu nicht zuletzt die Volksschule einen wichtigen Beitrag zu leisten habe.

Diese Vorstellungen konnten die Akademieprofessoren Kaiser und Wähler sowie ihre Kollegen nunmehr zu ihrer großen Freude in der thüringischen Metropole Erfurt umsetzen. Letztere hatte sich 1929 gegen Halle und Magdeburg, die beiden anderen Großstädte der Provinz Sachsen, durchgesetzt, die sich ebenfalls um eine Akademie beworben hatten. Das galt zu recht als Erfolg, wie man ihn schon zwei Jahre zuvor bei der Ansiedlung des neu gebildeten Landesarbeitsamtes Mitteldeutschland hatte feiern können. Man war sich, so die TAZ am Eröffnungstage der Akademie, über den Vorzug bewusst, den “Erfurt vor allen anderen Städten Mitteldeutschlands genießt”.

Freilich blieb die Akademie ein sehr flüchtiger Erfolg. Rasch kamen Gerüchte über Finanzierungsprobleme auf, zumal sich in der Neubaufrage sichtbar nichts tat. Im September 1931 titelte die Mitteldeutsche Zeitung “Das Schicksal der Erfurter Pädagogischen Akademie ist ungewiß”. Auch Eingaben des Stadtrates und des Erfurter Lehrervereins an das Berliner Volksbildungsministerium konnten das drohende Aus für die junge Akademie nicht abwenden. In einem Schreiben vom 26. Januar 1932 wurde der Magistrat schließlich von der bevorstehenden Einstellung des Lehrbetriebes (wie auch an sieben weiteren Akademien) unterrichtet. Schlusspunkt wurde die Abschiedsfeier am 28. Februar in der Aula des Lehrerseminars, die nicht nur durch die einleitende H-Moll-Fuge von Bach einen sehr getragenen und bitteren Charakter für alle Beteiligten trug.

Die Schließung der Einrichtung zum 1. April 1932 gehörte zu den Tiefpunkten der Stadtentwicklung während der Weltwirtschaftskrise ab Herbst 1929. Für das Prestige der Stadt, die sich in jener Zeit mit ehrgeizigen Projekten zur Fremdenverkehrs- und Kongressstadt, ja möglichst sogar zur thüringischen oder mitteldeutschen Hauptstadt profilieren wollte, war dies ein herber Rückschlag. Besonders betroffen waren natürlich die Lehrenden der Akademie. Für den heimatverbundenen Erfurter Martin Wähler etwa begann ein unstetes Pendlerleben an verschiedenen Universitäten und Hochschulen, dass zu keiner Festanstellung mehr führen sollte.

Aber die Schließung gewann ihre volle Negativwirkung erst im Zusammenhang der allgemeinen wirtschaftlich-sozialen Entwicklung ab 1929, die eine geradezu verzweifelte Krisenstimmung in der Bevölkerung hervorrief. Schon 1930 sprach die TAZ von einer “Hochflut der Insolvenzen”, im Sommer 1932 war mehr als jeder dritte Erfurter arbeitslos. Für kommunale Einrichtungen und Bauprojekte, wie einen Komplex aus Stadt-, Schwimm- und Sporthalle neben dem Stadion, kam ein abruptes Aus. Hinzu kam die politische Radikalisierung mit Straßenschlachten und Wirtshausprügeleien zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten.

Das Ende der Akademie war also nur eine Negativschlagzeile unter vielen. Die Schrecken der Moderne hatten auch die Industriestadt Erfurt voll erfasst. Das, was in dieser Zeit der Umbrüche und Krisen v.a. aus Sicht des Bürgertums eigentlich hatte Halt geben sollen, Tradition, Heimat, Lokalstolz, wurde nicht zuletzt in Form der kurz zuvor so freudig begrüßten Pädagogischen Akademie beseitigt. Wohin sollte die Entwicklung gehen, wenn mit einem Federstrich ganze Hochschulen verschwanden? Eine Mehrheit des Erfurter Bürgertums entschied sich in dieser Fundamentalkrise zur Flucht in die nationale Volksgemeinschaft der Nationalsozialisten. In seiner Bußtagspredigt brachte Pfarrer Otto Elze (Hospital-Kirche), nach 1933 einer der führenden Vertreter der regimenahen Deutschen Christen (DC), die Stimmung Ende 1932 auf den Punkt: “Es muß anders werden! So kann es nicht weiter gehen, im öffentlichen Leben, mit der Erwerbslosennot, im sozialen Leben, in der Verwaltung! So schreit es uns jede Unterhaltung, jede Versammlung, jede Zeitung in die Ohren. Wenn nicht bald eine Wendung zum Guten kommt, dann geht’s mit unserem Volk in den Abgrund hinein”. Vor jenem Abgrund schien schließlich nur noch Adolf Hitler Deutschland bewahren zu können – mit den bekannten Folgen.


Text: Steffen Raßloff: Die Pädagogische Akademie Erfurt 1929-1932. Ein vergessenes Kapitel Erfurter Hochschulgeschichte. In: Stadt und Geschichte. Zeitschrift für Erfurt 32 (2006). S. 22 f.