Nettelbeckufer: Unterschied zwischen den Versionen

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'''Ortsteil:''' '''[[Ilversgehofen]]'''
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'''Bezeichnung seit:''' 1905, zwischenzeitlich 1950-1956 Goerdelerufer nach Carl Goerdeler, Leipziger Oberbürgermeister und Angehöriger des Kreises um die Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944
'''Bezeichnung seit:''' 1905


'''vorherige Bezeichnung/en:''' keine
'''vorherige Bezeichnung/en:''' 1950-1956: Goerdelerufer nach Carl Goerdeler, Leipziger Oberbürgermeister und Angehöriger des Kreises um die Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944


'''Bedeutung:''' benannt nach Joachim Nettelbeck (1738-1824), Symbolfigur der deutschen Nationalbewegung als "Retter von Kolberg" mit Neidhardt von Gneisenau gegen die französische Belagerung 1807
'''Bedeutung:''' Die Straße ist benannt nach Joachim Nettelbeck (1738-1824), Symbolfigur der deutschen Nationalbewegung. Nettelbeck leitete als Bürgerrepräsentant gemeinsam mit Militärkommandant '''[[Neidhardt von Gneisenau]]''' die Verteidigung der preußischen Festung Kolberg gegen die französische Belagerung 1807.


Seit 2020 fordert die Bewegung Decolonize Erfurt, Initiator der umstrittenen Ausstellung '''[[Kolonialismus in Erfurt]]''', eine Umbenennung wegen Nettelbecks Tätigkeit als Seemann auf Sklavenschiffen, seinen Kolonial-Vorschlägen und der posthumen Stilisierung zum Nationalhelden. An seine Stelle soll der am Nettelbeckufer geborene farbige Erfurter Gert Schramm treten, der im KZ Buchenwald inhaftiert war. Andere Stimmen machen darauf aufmerksam, dass seit den frühen 1990er-Jahren bewusst keine Umbenennungen aus historischen Gründen mehr vorgenommen wurden. Das Nettelbeckufer wäre damit ein Präzedenzfall, der auch die kritische Betrachtung weiterer Straßennamen nach sich ziehen müsste.
Seit Frühjahr 2020 fordert der Verein Decolonize Erfurt eine Umbenennung wegen Nettelbecks Tätigkeit als Seemann auf Sklavenschiffen und dessen Kolonial-Vorschlägen an den preußischen König. Auch die postume Erhebung zum Nationalhelden wird ihm bis hin zum NS-Propagandafilm "Kolberg" (1945) angelastet. An Nettelbecks Stelle soll der farbige Erfurter Gert Schramm treten. Der Deutsche Städtetag empfiehlt jedoch in einer '''[https://www.staedtetag.de/publikationen/weitere-publikationen/2021/handreichung-strassennamen Handreichung]''' solche "Straßenumbenennungen auf ein Minimum zu beschränken" und nur bei einer "eindeutigen wissenschaftlichen Meinung" umzusetzen. Zudem hat man seit den 1990er-Jahren historische Umbenennungen vermieden. Deshalb wäre das Nettelbeckufer ein Präzedenzfall, so Stadtsprecher Daniel Baumbach: "Andererseits sehen Experten – wie der engagierte Erfurter Historiker '''[[Steffen Raßloff|Dr. Steffen Raßloff]]''' – Probleme. Raßloff fragt zu Recht: Wenn wir Nettelbeck streichen, was machen wir dann mit '''[[Thaelmannstrasse|Ernst Thälmann]]''' oder '''[[Rosa-Luxemburg-Straße|Rosa Luxemburg]]'''? Auch diese sind aus heutiger Sicht auf Straßenschildern nicht mehr tragbar. Wenn wir bei Nettelbeck anfangen, wo hören wir dann also auf?" (Amtsblatt, 26.06.20) 


Stadtsprecher Daniel Baumbach umreißt die Situation bei aller Sympathie für eine Ehrung Schramms so: "Andererseits sehen Experten – wie der engagierte Erfurter Historiker '''[[Steffen Raßloff|Dr. Steffen Raßloff]]''' – Probleme. Raßloff fragt zu Recht: Wenn wir Nettelbeck streichen, was machen wir dann mit '''[[Thaelmannstrasse|Ernst Thälmann]]''' oder '''[[Rosa-Luxemburg-Straße|Rosa Luxemburg]]'''? Auch diese historischen Figuren haben keine reinweiße Weste, sind aus heutiger Sicht auf Straßenschildern ebenso nicht mehr tragbar. Wenn wir bei Nettelbeck anfangen, wo hören wir dann also auf? In der Nachwendezeit hatte sich die Stadt schon gegen eine große Umbenennungswelle ausgesprochen. Man wollte keine 'Bilderstürmerei'." (Amtsblatt, 26.06.2020)  
Die Frage ist also, ob man eine hoch emotionale und polarisierende Debatte über die Tilgung von '''[[Straßen-Geschichte|Straßennamen]]''' anstoßen oder diese als reflektierten Teil der Stadtgeschichte beibehalten möchte. Auch sollten die Anlieger einbezogen werden, die eine Umbenennung überwiegend ablehnen, wie Unterschriftensammlungen und Online-Umfragen zeigen. Sie sahen sich deshalb von den Umbenennungs-Aktivisten "in die rechte Ecke der Rassisten und Huldiger von Sklaverei und Kolonialismus" gestellt (Thüringer Allgemeine, 19.08.20). Hier zeigt sich jene Cancel Culture, mit der "Anhänger einer radikalen Identitätspolitik immer öfter zur Stigmatisierung von Politikern, Publizisten und Wissenschaftlern" übergehen, um "diese mundtot zu machen", so MDR-Korrespondent Tim Herden (MDR Aktuell, 21.03.21). Dies beklagen auch Erfurter Professoren im "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" und mahnen eine "plurale von Sachargumenten und gegenseitigem Respekt geprägte Debattenkultur" an (03.02.21).


Das wirft für den Stadtrat die Frage auf, ob man eine emotionale und polarisierende Debatte über Straßennamen anstoßen oder diese als kritisch reflektierten Teil der '''[[Geschichte der Stadt Erfurt|Stadtgeschichte]]''' beibehalten möchte. Auch sollten die Anwohner und Gewerbetreibenden einbezogen werden, die eine Umbenennung ganz überwiegend ablehnen. Zudem sehen sie sich wie viele in der Gefahr, von den in den Medien sehr präsenten Initiatoren und Unterstützern "in die rechte Ecke der Rassisten und Huldiger von Sklaverei und Kolonialismus gestellt zu werden" (Thüringer Allgemeine, 19.08.2020). Während Grüne und Linke die Inititive unterstützen, plädiert die CDU mit Freien Wählern, Piraten und FDP ebenso wie die Anlieger-Vertretung für die Beibehaltung des Namens und die Ehrung Schramms durch eine Neubenennung. Letzterem hat sich unterdessen Oberbürgermeister Andreas Bausewein und die Mehrheit der SPD-Fraktion angeschlossen. Auch dort sieht man den Zeitpunkt kommen, an dem endlich "entschieden werden muss. Die Entscheidung obliegt dem Stadtrat und diese wird auch die Umbenennungsinitiative akzeptieren müssen." (SPD-Stadtrat Dr. Holger Poppenhäger, 11.02.2021)
Trotz aufwändiger Aktivitäten hat Decolonize eine 2020 gestartete '''[https://www.openpetition.de/petition/blog/fuer-die-umbenennung-des-erfurter-nettelbeckufers-in-gert-schramm-ufer Onlinepetition]''' nicht eingereicht und keinen Umbenennungsantrag gestellt. Im April 2021 beschloss die rot-rot-grüne Stadtratsmehrheit stattdessen einen "Runden Tisch" zur Fortführung der Debatte. Dagegen hatten CDU, Freie Wähler, Piraten und FDP mit den Anwohner-Vertretern für die Beibehaltung des Namens mit Erläuterungstafel und eine Neubenennung für Schramm plädiert. Nach einem ergebnislosen Gespräch im Rathaus, das der Kompromisssuche hatte dienen sollen, haben die Anwohner ihre Teilnahme am „Runden Tisch“ abgesagt und die Vorschläge samt einer Umbenennung der Karlsbrücke in Gerd-Schramm-Brücke erneuert (MDR, 14.07.22). Damit soll die Diskussion, in der längst alle Argumente ausgetauscht wurden, zu einem einvernehmlichen Ende geführt werden. Hierfür spricht sich auch Oberbürgermeister Andreas Bausewein (SPD) aus (Amtsblatt, 10.08.22); CDU-Fraktionsvorsitzender Michael Hose hofft nun auf einen entsprechenden Antrag des OB im Stadtrat (Pressemeldung, 11.08.22).     




Siehe: '''[[Straßen-Geschichte|Geschichte der Erfurter Straßennamen]]''', '''[[Mohrengasse]]''', '''[[HollitzerTrifftRassloff|Podcast HOLLITZER TRIFFT]]''' (25.09.2020)
Siehe: '''[[Straßen-Geschichte|Erfurter Straßennamen]]''', '''[[Mohrengasse]]''', '''[[Koloniales Erbe in Erfurt]]''', '''[[Geschichte der Stadt Erfurt]]'''
 
 
'''''Thüringer Allgemeine vom 28.07.2020 und 07.07.2020''' (zum Lesen anklicken):''
 
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Version vom 16. August 2022, 16:11 Uhr

Nettelbeckufer

Ortsteil: Ilversgehofen

Bezeichnung seit: 1905

vorherige Bezeichnung/en: 1950-1956: Goerdelerufer nach Carl Goerdeler, Leipziger Oberbürgermeister und Angehöriger des Kreises um die Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944

Bedeutung: Die Straße ist benannt nach Joachim Nettelbeck (1738-1824), Symbolfigur der deutschen Nationalbewegung. Nettelbeck leitete als Bürgerrepräsentant gemeinsam mit Militärkommandant Neidhardt von Gneisenau die Verteidigung der preußischen Festung Kolberg gegen die französische Belagerung 1807.

Seit Frühjahr 2020 fordert der Verein Decolonize Erfurt eine Umbenennung wegen Nettelbecks Tätigkeit als Seemann auf Sklavenschiffen und dessen Kolonial-Vorschlägen an den preußischen König. Auch die postume Erhebung zum Nationalhelden wird ihm bis hin zum NS-Propagandafilm "Kolberg" (1945) angelastet. An Nettelbecks Stelle soll der farbige Erfurter Gert Schramm treten. Der Deutsche Städtetag empfiehlt jedoch in einer Handreichung solche "Straßenumbenennungen auf ein Minimum zu beschränken" und nur bei einer "eindeutigen wissenschaftlichen Meinung" umzusetzen. Zudem hat man seit den 1990er-Jahren historische Umbenennungen vermieden. Deshalb wäre das Nettelbeckufer ein Präzedenzfall, so Stadtsprecher Daniel Baumbach: "Andererseits sehen Experten – wie der engagierte Erfurter Historiker Dr. Steffen Raßloff – Probleme. Raßloff fragt zu Recht: Wenn wir Nettelbeck streichen, was machen wir dann mit Ernst Thälmann oder Rosa Luxemburg? Auch diese sind aus heutiger Sicht auf Straßenschildern nicht mehr tragbar. Wenn wir bei Nettelbeck anfangen, wo hören wir dann also auf?" (Amtsblatt, 26.06.20)

Die Frage ist also, ob man eine hoch emotionale und polarisierende Debatte über die Tilgung von Straßennamen anstoßen oder diese als reflektierten Teil der Stadtgeschichte beibehalten möchte. Auch sollten die Anlieger einbezogen werden, die eine Umbenennung überwiegend ablehnen, wie Unterschriftensammlungen und Online-Umfragen zeigen. Sie sahen sich deshalb von den Umbenennungs-Aktivisten "in die rechte Ecke der Rassisten und Huldiger von Sklaverei und Kolonialismus" gestellt (Thüringer Allgemeine, 19.08.20). Hier zeigt sich jene Cancel Culture, mit der "Anhänger einer radikalen Identitätspolitik immer öfter zur Stigmatisierung von Politikern, Publizisten und Wissenschaftlern" übergehen, um "diese mundtot zu machen", so MDR-Korrespondent Tim Herden (MDR Aktuell, 21.03.21). Dies beklagen auch Erfurter Professoren im "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" und mahnen eine "plurale von Sachargumenten und gegenseitigem Respekt geprägte Debattenkultur" an (03.02.21).

Trotz aufwändiger Aktivitäten hat Decolonize eine 2020 gestartete Onlinepetition nicht eingereicht und keinen Umbenennungsantrag gestellt. Im April 2021 beschloss die rot-rot-grüne Stadtratsmehrheit stattdessen einen "Runden Tisch" zur Fortführung der Debatte. Dagegen hatten CDU, Freie Wähler, Piraten und FDP mit den Anwohner-Vertretern für die Beibehaltung des Namens mit Erläuterungstafel und eine Neubenennung für Schramm plädiert. Nach einem ergebnislosen Gespräch im Rathaus, das der Kompromisssuche hatte dienen sollen, haben die Anwohner ihre Teilnahme am „Runden Tisch“ abgesagt und die Vorschläge samt einer Umbenennung der Karlsbrücke in Gerd-Schramm-Brücke erneuert (MDR, 14.07.22). Damit soll die Diskussion, in der längst alle Argumente ausgetauscht wurden, zu einem einvernehmlichen Ende geführt werden. Hierfür spricht sich auch Oberbürgermeister Andreas Bausewein (SPD) aus (Amtsblatt, 10.08.22); CDU-Fraktionsvorsitzender Michael Hose hofft nun auf einen entsprechenden Antrag des OB im Stadtrat (Pressemeldung, 11.08.22).


Siehe: Erfurter Straßennamen, Mohrengasse, Koloniales Erbe in Erfurt, Geschichte der Stadt Erfurt