Nettelbeckufer: Unterschied zwischen den Versionen

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'''Bedeutung:''' Die Straße ist benannt nach Joachim Nettelbeck (1738-1824), Symbolfigur der deutschen Nationalbewegung. Nettelbeck leitete als Bürgerrepräsentant gemeinsam mit Militärkommandant '''[[Neidhardt von Gneisenau]]''' die Verteidigung der preußischen Festung Kolberg gegen die französische Belagerung 1807.
'''Bedeutung:''' Die Straße ist benannt nach Joachim Nettelbeck (1738-1824), Symbolfigur der deutschen Nationalbewegung. Nettelbeck leitete als Bürgerrepräsentant gemeinsam mit Militärkommandant '''[[Neidhardt von Gneisenau]]''' die Verteidigung der preußischen Festung Kolberg gegen die französische Belagerung 1807.


Seit März 2020 fordert der Verein Decolonize Erfurt eine Umbenennung wegen Nettelbecks Tätigkeit als Seemann auf Sklavenschiffen, seinen Kolonial-Vorschlägen und der postumen Erhebung zum Nationalhelden. An seine Stelle soll der farbige Erfurter Gert Schramm treten, der im KZ Buchenwald inhaftiert war. Der Deutsche Städtetag empfiehlt jedoch, etablierte Straßennamen nicht ohne wichtigen Grund umzubenennen. Zudem hat man seit den 1990er-Jahren bewusst historische Umbenennungen vermieden. Deshalb wäre das Nettelbeckufer ein Präzedenzfall, so Stadtsprecher Daniel Baumbach: "Andererseits sehen Experten – wie der engagierte Erfurter Historiker '''[[Steffen Raßloff|Dr. Steffen Raßloff]]''' – Probleme. Raßloff fragt zu Recht: Wenn wir Nettelbeck streichen, was machen wir dann mit '''[[Thaelmannstrasse|Ernst Thälmann]]''' oder '''[[Rosa-Luxemburg-Straße|Rosa Luxemburg]]'''? Auch diese sind aus heutiger Sicht auf Straßenschildern nicht mehr tragbar. Wenn wir bei Nettelbeck anfangen, wo hören wir dann also auf?" (Amtsblatt, 26.06.20)  
Seit 2020 fordert der Verein Decolonize Erfurt eine Umbenennung wegen Nettelbecks Tätigkeit als Seemann auf Sklavenschiffen und dessen Kolonial-Vorschlägen an den preußischen König. Auch die postume Erhebung zum Nationalhelden wird ihm bis hin zum NS-Propagandafilm "Kolberg" (1945) angelastet. An Nettelbecks Stelle soll der farbige Erfurter Gert Schramm treten. Der Deutsche Städtetag empfiehlt jedoch in einer '''[https://www.staedtetag.de/publikationen/weitere-publikationen/2021/handreichung-strassennamen Handreichung]''' solche "Straßenumbenennungen auf ein Minimum zu beschränken" und nur bei einer "eindeutigen wissenschaftlichen Meinung" umzusetzen. Zudem hat man seit den 1990er-Jahren historische Umbenennungen vermieden. Deshalb wäre das Nettelbeckufer ein Präzedenzfall, so Stadtsprecher Daniel Baumbach: "Andererseits sehen Experten – wie der engagierte Erfurter Historiker '''[[Steffen Raßloff|Dr. Steffen Raßloff]]''' – Probleme. Raßloff fragt zu Recht: Wenn wir Nettelbeck streichen, was machen wir dann mit '''[[Thaelmannstrasse|Ernst Thälmann]]''' oder '''[[Rosa-Luxemburg-Straße|Rosa Luxemburg]]'''? Auch diese sind aus heutiger Sicht auf Straßenschildern nicht mehr tragbar. Wenn wir bei Nettelbeck anfangen, wo hören wir dann also auf?" (Amtsblatt, 26.06.20)


Die Frage ist also, ob man eine polarisierende Debatte über '''[[Straßen-Geschichte|Straßennamen]]''' anstoßen oder diese als kritisch reflektierten Teil der Stadtgeschichte beibehalten möchte. Auch sollten die Anlieger einbezogen werden, die eine Umbenennung überwiegend ablehnen. Sie sehen sich deshalb von den Initiatoren "in die rechte Ecke der Rassisten und Huldiger von Sklaverei und Kolonialismus" gestellt (Thüringer Allgemeine, 19.08.20). Auch in der polemischen Kampagne gegen Historiker Raßloff (s.u.) zeigt sich jene Cancel Culture, mit der "Anhänger einer radikalen Identitätspolitik immer öfter zur Stigmatisierung von Politikern, Publizisten und Wissenschaftlern" übergehen, um "diese mundtot zu machen", so MDR-Korrespondent Tim Herden (MDR Aktuell, 21.03.2021). Dies beklagen auch Professoren der Universität Erfurt im "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" und mahnen eine "plurale von Sachargumenten und gegenseitigem Respekt geprägte Debattenkultur" an (03.02.21).
Die Frage ist also, ob man eine polarisierende Debatte über '''[[Straßen-Geschichte|Straßennamen]]''' anstoßen oder diese als reflektierten Teil der Stadtgeschichte und Denkanstoß beibehalten möchte. Auch sollten die Anlieger einbezogen werden, die eine Umbenennung überwiegend ablehnen. Sie sehen sich deshalb von den Umbennungs-Aktivisten "in die rechte Ecke der Rassisten und Huldiger von Sklaverei und Kolonialismus" gestellt (Thüringer Allgemeine, 19.08.20). Hier zeigt sich jene Cancel Culture, mit der "Anhänger einer radikalen Identitätspolitik immer öfter zur Stigmatisierung von Politikern, Publizisten und Wissenschaftlern" übergehen, um "diese mundtot zu machen", so MDR-Korrespondent Tim Herden (MDR Aktuell, 21.03.2021). Dies beklagen auch Erfurter Professoren im "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" und mahnen eine "plurale von Sachargumenten und gegenseitigem Respekt geprägte Debattenkultur" an (03.02.21).  


Am 28. April 2021 wurde im Stadtrat ein Runder Tisch beschlossen, der die mehr als einjährige Debatte fortführen soll. Hierfür stimmten Grüne, Mehrwertstadt, Linke und SPD. Dagegen hatten CDU, Freie Wähler, Piraten und FDP für die Beibehaltung des Namens und eine Neubenennung für Schramm plädiert. Sie forderten eine Entscheidung, da alle Argumente ausgetauscht sind und Decolonize kompromisslos an seinem Ziel festhält. Somit läuft der Beschluss auf die Fortsetzung der Umbenennungskampagne hinaus. Vertreter der Anwohner werteten dies als Sieg der Cancel Culture von Decolonize, das anmaßend erklärt hatte, nur ihre Initiative könne "Erfurt als weltoffene und tolerante Landeshauptstadt voranbringen" (Presseerklärung, 26.04.2021). Das zielte besonders auf SPD und Oberbürgermeister Andreas Bausewein, der sich im Vorfeld noch deutlich gegen eine Umbenennung ausgesprochen hatte (Thüringer Allgemeine, 02.02.2021).  
Eine 2020 gestartete Onlinepetition von Decolonize wurde nicht im Stadtrat eingereicht ('''[https://www.openpetition.de/petition/blog/fuer-die-umbenennung-des-erfurter-nettelbeckufers-in-gert-schramm-ufer openPetition]''') und auch kein formeller Antrag auf Umbenennung gestellt. Im April 2021 beschloss der Stadtrat mit der Mehrheit von Rot-Rot-Grün einen "Runden Tisch" zur Fortführung der Debatte. Dagegen hatten CDU, Freie Wähler, Piraten und FDP in Absprache mit den Anwohner-Vertretern für die Beibehaltung des Namens und die Neubenennung einer Straße für Schramm plädiert. Sie forderten eine finale Entscheidung, da alle Argumente ausgetauscht sind und Decolonize kompromisslos an seinem Ziel festzuhalten erklärte (Thüringer Allgemeine, 05.01.2021). Die Anwohner sahen sich zudem erneut brüskiert, als man für die Umbennungs-Aktivisten drei feste Sitze vorsah, während sich die Anwohner - Befürworter wie Gegner - für weitere drei Sitze bewerben sollten (Amtblatt, 15.10.2021). Ein moderiertes Gespräch zur Auslotung von Kompromissen im Rathaus blieb ergebnislos, worauf nun im Herbst der "Runde Tisch" stattfinden soll (Thüringer Allgemeine, 18.06.2022).    




Siehe: '''[[Straßen-Geschichte|Erfurter Straßennamen]]''', '''[[Mohrengasse]]''', '''[[Koloniales Erbe in Erfurt]]''', '''[[Geschichte der Stadt Erfurt]]'''
Siehe: '''[[Straßen-Geschichte|Erfurter Straßennamen]]''', '''[[Mohrengasse]]''', '''[[Koloniales Erbe in Erfurt]]''', '''[[Geschichte der Stadt Erfurt]]'''
'''''Thüringer Allgemeine vom 28.07.2020 und 07.07.2020''' (zum Lesen anklicken):''
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Version vom 20. Juni 2022, 09:22 Uhr

Nettelbeckufer

Ortsteil: Ilversgehofen

Bezeichnung seit: 1905

vorherige Bezeichnung/en: 1950-1956: Goerdelerufer nach Carl Goerdeler, Leipziger Oberbürgermeister und Angehöriger des Kreises um die Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944

Bedeutung: Die Straße ist benannt nach Joachim Nettelbeck (1738-1824), Symbolfigur der deutschen Nationalbewegung. Nettelbeck leitete als Bürgerrepräsentant gemeinsam mit Militärkommandant Neidhardt von Gneisenau die Verteidigung der preußischen Festung Kolberg gegen die französische Belagerung 1807.

Seit 2020 fordert der Verein Decolonize Erfurt eine Umbenennung wegen Nettelbecks Tätigkeit als Seemann auf Sklavenschiffen und dessen Kolonial-Vorschlägen an den preußischen König. Auch die postume Erhebung zum Nationalhelden wird ihm bis hin zum NS-Propagandafilm "Kolberg" (1945) angelastet. An Nettelbecks Stelle soll der farbige Erfurter Gert Schramm treten. Der Deutsche Städtetag empfiehlt jedoch in einer Handreichung solche "Straßenumbenennungen auf ein Minimum zu beschränken" und nur bei einer "eindeutigen wissenschaftlichen Meinung" umzusetzen. Zudem hat man seit den 1990er-Jahren historische Umbenennungen vermieden. Deshalb wäre das Nettelbeckufer ein Präzedenzfall, so Stadtsprecher Daniel Baumbach: "Andererseits sehen Experten – wie der engagierte Erfurter Historiker Dr. Steffen Raßloff – Probleme. Raßloff fragt zu Recht: Wenn wir Nettelbeck streichen, was machen wir dann mit Ernst Thälmann oder Rosa Luxemburg? Auch diese sind aus heutiger Sicht auf Straßenschildern nicht mehr tragbar. Wenn wir bei Nettelbeck anfangen, wo hören wir dann also auf?" (Amtsblatt, 26.06.20)

Die Frage ist also, ob man eine polarisierende Debatte über Straßennamen anstoßen oder diese als reflektierten Teil der Stadtgeschichte und Denkanstoß beibehalten möchte. Auch sollten die Anlieger einbezogen werden, die eine Umbenennung überwiegend ablehnen. Sie sehen sich deshalb von den Umbennungs-Aktivisten "in die rechte Ecke der Rassisten und Huldiger von Sklaverei und Kolonialismus" gestellt (Thüringer Allgemeine, 19.08.20). Hier zeigt sich jene Cancel Culture, mit der "Anhänger einer radikalen Identitätspolitik immer öfter zur Stigmatisierung von Politikern, Publizisten und Wissenschaftlern" übergehen, um "diese mundtot zu machen", so MDR-Korrespondent Tim Herden (MDR Aktuell, 21.03.2021). Dies beklagen auch Erfurter Professoren im "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" und mahnen eine "plurale von Sachargumenten und gegenseitigem Respekt geprägte Debattenkultur" an (03.02.21).

Eine 2020 gestartete Onlinepetition von Decolonize wurde nicht im Stadtrat eingereicht (openPetition) und auch kein formeller Antrag auf Umbenennung gestellt. Im April 2021 beschloss der Stadtrat mit der Mehrheit von Rot-Rot-Grün einen "Runden Tisch" zur Fortführung der Debatte. Dagegen hatten CDU, Freie Wähler, Piraten und FDP in Absprache mit den Anwohner-Vertretern für die Beibehaltung des Namens und die Neubenennung einer Straße für Schramm plädiert. Sie forderten eine finale Entscheidung, da alle Argumente ausgetauscht sind und Decolonize kompromisslos an seinem Ziel festzuhalten erklärte (Thüringer Allgemeine, 05.01.2021). Die Anwohner sahen sich zudem erneut brüskiert, als man für die Umbennungs-Aktivisten drei feste Sitze vorsah, während sich die Anwohner - Befürworter wie Gegner - für weitere drei Sitze bewerben sollten (Amtblatt, 15.10.2021). Ein moderiertes Gespräch zur Auslotung von Kompromissen im Rathaus blieb ergebnislos, worauf nun im Herbst der "Runde Tisch" stattfinden soll (Thüringer Allgemeine, 18.06.2022).


Siehe: Erfurter Straßennamen, Mohrengasse, Koloniales Erbe in Erfurt, Geschichte der Stadt Erfurt