Geschichte der Stadt Erfurt: Unterschied zwischen den Versionen

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'''Die Landeshauptstadt Erfurt war seit jeher der Zentralort Thüringens und im Mittelalter eine der glanzvollen Metropolen des Reiches.'''
Erfurt ist die alte Metropole '''[[Geschichte Thüringens|Thüringens]]'''. Seit jeher geographisch-infrastruktureller Zentralort und "heimliche Hauptstadt", fungiert es - nach kurzem Intermezzo 1949/52 - seit 1990 als '''[[Landeshauptstadt Erfurt|Hauptstadt]]''' des Bundeslandes (1993 "Freistaates") Thüringen.


Von etwa 1000 an unter weltlicher Herrschaft des '''[[Historische Beziehungen Erfurt Mainz|Mainzer]]''' Erzbischofs, hatte sich der frühe Siedlungsschwerpunkt seit dem 13. Jahrhundert zur autonomen mitteldeutschen Handels- und Kulturmetropole entwickelt. Wichtigstes Handelsgut war das beliebte Blaufärbemittel '''[[Waid]]'''. 1379 erfolgte die Privilegierung der ältesten '''[[Universität Erfurt|Universität]]''' im heutigen Deutschland, deren berühmtester Student und Lehrer '''[[Martin Luther]]''' war. Nach der '''[[Orte der Reformation Erfurt|Reformation]]''' bekannte sich eine große Bevölkerungsmehrheit zum Protestantismus.  Die '''[[Jüdisches Leben Erfurt|jüdische Gemeinde]]''' gehörte bis Mitte des 14. Jahrhunderts zu den größten und bedeutendsten in Deutschland. Dem schleichenden Niedergang ab Ende des 15. Jahrhunderts folgte 1664 im Zeitalter des Absolutismus die erneute Unterwerfung unter den Stadtherrn.


Die gut 800-jährige Bindung an Mainz endete 1802 mit dem Übergang an '''[[Preussen Erfurt|Preußen]]'''. Im Königreich der Hohenzollern stieg Erfurt ab Mitte des 19. Jahrhunderts zur modernen Industriegroßstadt und Hochburg der '''[[SPD Erfurt|Sozialdemokratie]]''' auf, die im '''[[Erfurter Parteitag der SPD 1891|Erfurter Programm von 1891]]''' den Namen SPD festschrieb. Gleichzeitg erwarb man sich dank erfolgreicher Gartenbauunternehmen den internationalen Ruf einer '''[[Blumenstadt Erfurt|Blumenstadt]]'''. Im 20. Jahrhundert hatte auch Erfurt die heftigen Spannungen des "Zeitalters der Extreme" samt zweier Weltkriege und Diktaturen zu durchleben.
[[Datei:ErfurtStadtwappen.jpeg|160px|right]]Hartmann Schedel hat in seiner berühmten Weltchronik von 1493 Erfurt als das „Haupt des Thüringer Landes“ bezeichnet. Diese Stellung zieht sich wie ein roter Faden durch die Erfurter Geschichte – von den bedeutenden Funden aus der Zeit des Thüringer Königreiches im 6. Jahrhundert bis hin zur heutigen '''[[Landeshauptstadt Erfurt|Landeshauptstadt]]''' des Freistaates '''[[Geschichte Thüringens|Thüringen]]'''. Darüber hinaus gehörte Erfurt im Mittelalter zu den großen Metropolen des Reiches. Noch immer ist dies in seiner Altstadt mit ihren zahlreichen Kulturdenkmalen nachvollziehbar. Mit den dreizehn Jahrhunderten schriftlich verbriefter Geschichte - die Kulturgeschichte im weiteren Sinne reicht bis zum ersten '''[[Faustkeil]]''' 30.000 Jahre zurück - sind viele bedeutende Ereignisse und Persönlichkeiten verbunden.  


Mit Erfurt sind über die mehr als zwölf Jahrhunderte schriftlich verbriefter Stadtgeschichte zahlreiche bedeutende historische Persönlichkeiten und Ereignisse vom Wirken des Missionars '''[[Bonifatius]]''' bis hin zum ersten deutsch-deutschen '''[[Erfurter Gipfeltreffen|Gipfeltreffen]]''' Brandt-Stoph 1970 im '''[[Erfurter Hof]]''' verbunden. Im heutigen Stadtbild, in zahlreichen historischen Gebäuden und Monumenten, insbesondere in der großen, weithin erhaltenen Altstadt, schlägt sich die reiche Geschichte Erfurts als "steinerne Chronik" für jeden Betrachter sichtbar nieder. Zugleich verweisen Orte wie das Gelände der ehemaligen Firma '''[[Topf_und_Söhne_Erfurt|Topf & Söhne]]''', Hersteller der Öfen für Auschwitz, aber auch auf die dunklen Kapitel der jüngeren Geschichte.
Die '''[[Erfurt Metropolis Thuringiae|Mittelaltermetropole]]''' tritt zunächst als ein königlicher Zentralort ins Licht der Geschichte, in dem wichtige Reichstage stattfanden. 742 von '''[[Bonifatius]]''' zum Sitz eines Bistums bestimmt, blieb es trotz der Angliederung an das '''[[Historische Beziehungen Erfurt Mainz|Bistum Mainz]]''' das kirchliche Zentrum Thüringens. Um 1000 rückte der Mainzer Erzbischof zwar auch zum weltlichen Stadtherrn auf, doch seit dem 13. Jahrhundert erlangte Erfurt reichsstadtähnliche Autonomie. Symbolort jener kommunalen Selbstständigkeit war das '''[[Altes_Rathaus_Erfurt|Rathaus]]''' am Fischmarkt. Mit der '''[[Wasserburg Kapellendorf]]''' verfügte Erfurt sogar über ein Reichslehen, hinzu kamen zahlreiche Besitzungen im Umland wie das '''[[Forsthaus Willrode]]'''. Die Handels- und Kulturmetropole sowie '''[[Kleine Geschichte der Hanse|Hansestadt]]''' an der '''[[Via regia]]''', umgeben von zwei mächtigen '''[[Stadtmauern Erfurt|Mauerringen]]''' und überstrahlt von den Stadtkronen '''[[Dom Erfurt|Dom]]''' und '''[[Visionen_Peterskirche_Stadtkrone_Buga|Peterskirche]]''', blühte v.a. dank des Blaufärbemittels '''[[Waid]]''' auf.
 
 
'''> [[Kapitel 1|Frühgeschichte und Stadtwerdung (30.000 v. Chr. bis 12. Jh.)]]'''
 
'''> [[Kapitel 2|Mittelalterliche Handels- und Kulturmetropole (13. bis 15. Jh.)]]'''
 
'''> [[Kapitel 3|Schleichender Niedergang und kurmainzische Provinz (16. bis 18. Jh.)]]'''
 
'''> [[Kapitel 4|Wiederaufstieg unter Preußen (19. Jh.)]]'''
 
'''> [[Kapitel 5|Das "Zeitalter der Extreme" (20. Jh.)]]'''


1379 erhielt Erfurt das Privileg für die älteste '''[[Universität Erfurt|Universität]]''' im heutigen Deutschland, deren bekanntester Student und Lehrer '''[[Martin Luther]]''' war. Mit dessen Eintritt ins Erfurter '''[[Augustinerkloster Erfurt|Augustinerkloster]]''' 1505 begann das Ringen um die Grundeinsichten der '''[[Orte der Reformation Erfurt|Reformation]]'''. Luthers Kirchenerneuerung fiel hier auf fruchtbaren Boden und wurde besonders von '''[[Johannes Lang]]''', dem "Reformator Erfurts", getragen. Der Erfurter Humanistenkreis in der '''[[Engelsburg Erfurt|Engelsburg]]''' um "Poetenkönig" '''[[Helius Eobanus Hessus]]''', aus dessen Reihen die legendären  '''[[Dunkelmännerbriefe Erfurter Humanistenkreis|Dunkelmännerbriefe]]''' hervor gingen, trug ebenfalls zur kulturellen Blüte bei. Zuvor wirkten bereits bedeutende Denker des Mittelalters wie '''[[Meister_Eckhart_Denkmal_Erfurt|Meister Eckhart]]''' in Erfurt. Auch die '''[[Jüdisches Leben Erfurt|jüdische Gemeinde]]''' hat u.a. mit der ältesten erhaltenen '''[[Alte_Synagoge_Erfurt|Synagoge]]''' Mitteleuropas beeindruckende Spuren hinterlassen.
An der Schwelle zur Neuzeit war der Höhepunkt der Entwicklung allerdings überschritten. 1664 folgte die '''[[Mainzer_Reduktion_1664|Unterwerfung]]''' unter '''[[Historische Beziehungen Erfurt Mainz|Mainz]]'''. Aus jener Zeit leuchtet allein die Statthalterschaft '''[[Karl Theodor von Dalberg|Karl Theodor von Dalbergs]]''' hervor, zu dessen Kreis auch '''[[Johann Wolfgang von Goethe|Goethe]]''', '''[[Friedrich Schiller|Schiller]]''', '''[[Christoph Martin Wieland|Wieland]]''', '''[[Wilhelm_von_Humboldt|Humboldt]]''' und Herder zählten. Zugleich wurzelt in dieser Epoche der Aufschwung des Gartenbaus, der Erfurt später den weltweiten Ruf einer '''[[Blumenstadt Erfurt|Blumenstadt]]''' einbringen sollte. Auch als '''[[Johann Sebastian Bach|Bachstadt]]''' darf sich Erfurt bezeichnen. Die 800-jährige Bindung an Mainz endete 1802 mit dem Übergang an '''[[Preussen Erfurt|Preußen]]''', nur kurzzeitig unterbrochen von der "Franzosenzeit" 1806-1814 mit dem '''[[Erfurter_Fürstenkongress_1808|Erfurter Fürstenkongress]]''' Napoelons 1808. Nach den Reichseinigungskriegen (siehe: '''[[Schlacht_Langensalza_1866|Schlacht bei Langensalza 1866]]''') und der Reichseinigung 1871 stieg Erfurt zur modernen '''[[Industriegrossstadt_Erfurt|Industriegroßstadt]]''' auf, in der die '''[[SPD Erfurt|SPD]]''' 1891 ihr wegweisendes '''[[Erfurter Parteitag der SPD 1891|Erfurter Programm]]''' verabschiedete. Ein wichtiger Impulsgeber hierfür war der Anschluss an die '''[[Erfurt_Verkehrsgeschichte_ICE_Berlin_München_2017|Eisenbahn]]''' 1847. Zugleich bauten die Preußen die '''[[Stadtmauern_Erfurt|Festung]]''' und '''[[Militär in Erfurt|Garnison]]''' großzügig aus.


Im 20. Jahrhundert folgte das "Zeitalter der Extreme" (Eric Hobsbawm) mit zwei Weltkriegen und Diktaturen. Auslöser war der '''[[Erster Weltkrieg|Erste Weltkrieg]]''' 1914/18, auf den nach der '''[[Novemberrevolution Erfurt|Novemberrevolution]]''' die kurzlebige '''[[Weimarer Republik]]''' folgte, in der Erfurt einen kulturellen und städtbaulichen Aufschwung erlebte. Hieran erinnern etwa die zahlreichen Bauwerke im '''[[Bauhaus Erfurt|Bauhaus-Stil]]'''. Für die Verstrickung von Wirtschaft und Gesellschaft in die Verbrechen des '''[[Erfurt_im_Nationalsozialismus|Nationalsozialismus]]''' 1933-1945 steht die Firma '''[[Topf_und_Söhne_Erfurt|J.A. Topf & Söhne]]''', Hersteller der Öfen für Auschwitz. Dank relativ geringer Zerstörungen durch '''[[Erfurt im Luftkrieg|Luftangriffe]]''' konnte Erfurt sein historisches Stadtbild im Zweiten Weltkrieg weitgehend bewahren.


Nach amerikanischer Befreiung und raschem '''[[Besatzerwechsel_Amerikaner_Russen_1945|Besatzerwechsel]]'''  gehörte die Stadt seit 1945/49 zur Sowjetischen Besatzungszone bzw. DDR. Im neuen, bis 1952 bestehenden Land Thüringen übernahm Erfurt kurzzeitig die Hauptstadtrolle von Weimar, woran das heutige Landtagshochhaus erinnert, die sogenannte '''[[Landtagshochhaus Erfurt Eierkiste|Eierkiste]]'''. Am '''[[17. Juni 1953 in Erfurt|17. Juni 1953]]''' kam es zum Aufstand gegen die SED-Herrschaft; das erste deutsch-deutsche '''[[Erfurter Gipfeltreffen|Gipfeltreffen 1970]]''' im '''[[Erfurter Hof]]''' mit dem Jubel der Erfurter für Willy Brandt wies bereits auf die '''[[Friedliche_Revolution_und_Landesgründung_in_Thüringen_1989/90|Friedliche Revolution]]''' und deutsche Wiedervereinigung 1989/90 voraus. Mit der ersten '''[[Stasi_Besetzung_Erfurt_4._Dezember_1989|Besetzung einer Stasi-Bezirksverwaltung]]''' am 4. Dezember 1989 hatte Erfurt ein DDR-weites Signal gesetzt. Dank der "Wende" konnte auch die 1988 geschlossene '''[[Städtepartnerschaft Erfurt Mainz|Städtepartnerschaft mit Mainz]]''' mit Leben erfüllt werden.


Heute ist Erfurt eine Großstadt mit beschaulicher Lebensqualität. Als '''[[Dom Erfurt|Domstadt]]''', '''[[Martin Luther|Lutherstadt]]''' und '''[[Blumenstadt Erfurt|Blumenstadt]]''' inmitten des '''[[Thüringen_das_Grüne_Herz_Deutschlands|Grünen Herzen Deutschlands]]''' zieht es viele Touristen an. Einen ganz besonderen Charakter verleiht Erfurt, wenngleich der '''[[Stadtumbau_DDR-Zeit_Plattenbau|DDR-Städtebau]]''' keineswegs spurlos an ihm vorbeigegangen ist, seine weitgehend erhaltene '''[[Altstadt]]'''. Mit dem mittelalterlich-jüdischen Erbe ist es sogar für die Aufnahme auf die '''[[UNESCO_Welterbe_Augustinerkloster_juedisches_Erbe|UNESCO-Welterbeliste]]''' vorgeschlagen. Die Umstrukturierung von der Industriestadt zur Dienstleistungs- und Verwaltungsstadt ist weitgehend vollzogen, neue Wirtschaftszweige weisen in die Zukunft. Dies gilt auch für den '''[[Bernd das Brot KIKA|Kindermedienstandort]]''', die Hochschullandschaft mit der 1994 wiedergegründeten '''[[Universität Erfurt|Universität]]''' und der '''[[Fachhochschule Erfurt|Fachhochschule]]''' sowie das seit 1999 hier angesiedelte '''[[Bundesarbeitsgericht]]'''. Nicht zuletzt fand die alte Rolle Erfurts als „heimliche Hauptstadt“ Thüringens 1990 ihre Umwandlung zur '''[[Landeshauptstadt Erfurt|Landeshauptstadt]]'''. Große Impulse verspricht man sich von dem 2017 eingeweihten '''[[Erfurt_Verkehrsgeschichte_ICE_Berlin_München_2017|ICE-Drehkreuz Erfurt]]'''.


('''[[Steffen Raßloff|Dr. Steffen Raßloff]]''')




Zu den Kapiteln der Stadtgeschichte: '''> [[Kapitel 1|I. Frühgeschichte und Stadtwerdung (30.000 v. Chr. bis 12. Jh.)]]''' '''> [[Kapitel 2|II. Mittelalterliche Handels- und Kulturmetropole (13. bis 15. Jh.)]]''' '''> [[Kapitel 3|III. Schleichender Niedergang und kurmainzische Zeit (16. bis 18. Jh.)]]''' '''> [[Kapitel 4|IV. Napoleonische Zeit und Wiederaufstieg unter Preußen (19. Jh.)]]''' '''> [[Kapitel 5|V. Das "Zeitalter der Extreme" (20. Jh.)]]'''


'''Wiederaufstieg unter Preußen (19. Jh.)'''


In Folge der Französischen Revolution seit 1789 und der 1792 beginnenden Koalitionskriege wechselte Erfurt 1802 nach rund 800jähriger Zugehörigkeit zu '''[[Historische Beziehungen Erfurt Mainz|Mainz]]''' seinen Landesherren. Noch bevor der Reichsdeputationshauptschluss 1803 die größeren Fürsten für ihre linksrheinischen Verluste an Frankreich durch die Mediatisierung kleiner Reichsstände und Reichstädte sowie die Säkularisation der meisten geistlichen Fürstentümer entschädigte, kam Erfurt durch einen preußisch-französischen Sondervertrag 1802 zu '''[[Preussen Erfurt|Preußen]]'''. Am 21. August 1802 marschierten preußische Truppen in die Stadt ein und nahmen symbolisch von ihr Besitz.
Lesetipps:


Mit der preußischen Niederlage gegen Napoleon bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 begann für Erfurt das Zwischenspiel der "Franzosenzeit" 1806-1814. Erfurt erhielt 1807 den Status einer "kaiserlichen Domäne", die direkt '''[[Erfurter_Fürstenkongress_1808|Napoleon]]''' unterstand. Im September/Oktober 1808 fand auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung der glanzvolle '''[[Erfurter Fürstenkongress 1808|Erfurter Fürstenkongress]]''' mit nicht weniger als 34 Kaisern, Königen und Fürsten statt. Hierbei kam es am 2. Oktober 1808 zum denkwürdigen Treffen von Napoleon und Goethe in der Statthalterei. Im '''[[Kaisersaal Erfurt|Kaisersaal]]''' beeindruckte Napoleon seine Gäste mit glanzvollen Theateraufführungen der Comédie-Française. Nach der Niederlage Napoleons in Russland und der Leipziger Völkerschlacht im Oktober 1813 belagerten alliierte Truppen die Stadt und zerstörten bei einem Bombardement u.a. ein Wohnviertel auf dem nördlichen Domplatz sowie das '''[[Petersberg|Peterskloster]]'''. Nach gut siebenjähriger, zunehmend bedrückender französischer Besatzung zogen am 6. Januar 1814 die alliierten Befreiungsarmeen in die Stadt ein. Mit dem Abzug der Franzosen aus den Festungen '''[[Petersberg]]''' und '''[[Cyriaksburg]]''' am 7. Mai 1814 endete für Erfurt die Napoleonische Zeit.
'''Steffen Raßloff: [[Geschichte der Stadt Erfurt Rassloff|Geschichte der Stadt Erfurt]].''' Erfurt 2012 (5. Auflage 2019).  


Der Wiener Kongress 1815 sprach Erfurt erneut Preußen zu. Erfurt stieg zur Hauptstadt des gleichnamigen Regierungsbezirks in der neuen Provinz Sachsen mit der Hauptstadt Magdeburg auf. Für Preußen stand die Festung Erfurt an seiner Südgrenze im Mittelpunkt. Die Befestigungsanlagen einschließlich der beiden Citadellen ('''[[Petersberg]]''', '''[[Cyriaksburg]]''') wurden bis zur Jahrhundertmitte kostspielig ausgebaut. Das militärische Element prägte zunehmend das Stadtbild. Soldaten und Offiziere machten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über ein Zehntel der Gesamtbevölkerung aus.
'''Steffen Raßloff: [[Kleine Geschichte der Stadt Erfurt]]'''. Ilmenau 2016 (2. Auflage 2020).  
 
Die finanziell ruinierte Stadt erhielt erst 1822 ein gewisses Maß an Selbstverwaltung, das Wirtschaftsleben entwickelte sich nur allmählich. Entscheidend für die nach der Jahrhundertmitte beginnende Industrialisierung war der Bau der Thüringer Eisenbahn 1844-47, deren Sitz nach Erfurt gelegt wurde. Sehr für den Eisenbahnanschluss engagiert hatten sich weitsichtige Bürger wie '''[[Karl Herrmann Denkmal|Karl Herrmann]]'''. Ab 1850 war die Verbindung von Frankfurt/M. bis Berlin hergestellt. 1869 kam die Strecke Erfurt-Nordhausen und 1883 Erfurt-Sangerhausen hinzu. Nun fasste auch die Metallindustrie in Erfurt Fuß (1847 Eisenbahnreparaturwerkstatt, 1838 Metallfabrik J.A. John, 1862 Königliche Gewehrfabrik im Brühl).
 
Das wirtschaftlich erstarkte Bürgertum verlangte politische Mitsprache, liberale Grundrechte und einen deutschen Nationalstaat. Die Märzrevolution 1848 und ihre Folgen machten so vor Erfurt nicht halt. Am 24. November 1848 kam es sogar zu schweren '''[[Gedenktafel_1848_Angermuseum_Erfurt|Straßenkämpfen]]''' zwischen Bürgern und der Garnison auf dem Anger und in der Bahnhofstraße, bei denen 20 Menschen ums Leben kamen. Eine gewisse Fortsetzung der 1848/49 gescheiterten nationalen Einheitsbewegung war das in der Augustinerkirche tagende Erfurter Unionsparlament vom März/April 1850, das im Kompromiss zwischen Liberalen und preußischem König Friedrich Wilhelm IV. die Verfassung für einen "kleindeutschen" Nationalstaat ohne Österreich erarbeiten sollte. Die "Erfurter Union", an der der junge '''[[Bismarck]]''' als konservativer Abgeordneter teilgenommen hatte, blieb freilich Episode, da sich der preußische König nicht gegen Österreich durchsetzen konnte.
 
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich die Industrialisierung in Erfurt weitgehend durch. Es boomte nun v.a. die Metall- bzw. Schwerindustrie (Hagans, '''[[Erinnerungsort Topf und Söhne|J.A. Topf & Söhne]]''', Henry Pels & Co.) sowie die Textilindustrie (Schuhfabrik Lingel). Die großen Erfurter '''[[Blumenstadt Erfurt - Gartenbauunternehmen|Gartenbauunternehmen]]''' ('''[[Gartenbauunternehmen J.C. Schmidt|J.C. Schmidt]]''', '''[[Gartenbauunternehmen Ernst Benary|Ernst Benary]]''', '''[[Gartenbauunternehmen Haage|Haage]]''', '''[[Gartenbauunternehmen F.C. Heinemann|F.C. Heinemann]]''', '''[[Gartenbauunternehmen N.L. Chrestensen|N.L. Chrestensen]]''' u.a.) erlangten Weltruf und sorgten für den Beinamen '''[[Blumenstadt Erfurt|Blumenstadt]]'''. Dieser wurde durch regelmäßige internationale '''[[Gartenbauausstellungen in Erfurt|Gartenbauausstellungen]]''' seit 1865 - gewissermaßen Vorläufer der 1961 eröffneten '''[[Iga / egapark Erfurt|iga]]''' bzw. des heutigen '''[[Iga / egapark Erfurt|egaparks]]''' - gefestigt. Aber auch Banken und Versicherungen (Thuringia) siedelten sich in bisher nicht gekanntem Ausmaß im wirtschaftlichen Herzen Thüringens an. '''[[Johann August Röbling]]''', einer der Pioniere der Industrialisierung und späterer Erbauer der Brooklyn Bridge in New York, studierte 1821/23 am mathematischen Institut in Erfurt.
 
Die "Gründerjahre" nach der Reichseinigung 1871 sorgten endgültig für den Durchbruch zur modernen Industriemetropole, die seit 1872 als kreisfreie Stadt von '''[[Oberbürgermeister Erfurt|Oberbürgermeistern]]''' geleitet wurde. Wichtig war die Aufhebung der Festungsfunktion 1873. Es erfolgte die Beseitigung der '''[[Stadtmauern Erfurt|Mauerringe]]''' und rasante Vergrößerung des Stadtgebietes. Im Norden und Osten wuchsen v.a. Industrie und Arbeiterwohnsiedlungen, im Süden und Westen gehobenere Wohnquartiere. Daneben entstanden das neue Rathaus (1869/75), der Hauptbahnhof (1892/93), das Kaufhaus "Römischer Kaiser" am Anger (1906, heute "Anger 1"), das Hotel "Erfurter Hof" (1904/05, 1916 erweitert durch "Haus Kossenhaschen"), der Flutgraben (1891-1900) und parallel dazu die breite Ringstraße, der heutige '''[[Juri-Gagarin-Ring]]'''. 1871-76 wurde der Südfriedhof, 1913-16 der Hauptfriedhof angelegt, 1882 öffnete das neue städtische Krankenhaus in der Nordhäuser Straße, das heutige Klinikum. Daneben wurden Infrastruktur und Trinkwasserversorgung verbessert sowie die Kanalisation eingeführt. Die Stadt erhielt 1883 eine Pferdestraßenbahn, 1894 durch die "Elektrische" ersetzt. Seit den 1890er Jahren erfolgte die repräsentative Umgestaltung der Einkaufsmeilen Anger und Bahnhofstraße.
 
Das schwindelerregende Wachstum der Stadt wird deutlich, wenn man die 44.000 '''[[Bevölkerungsentwicklung in Erfurt|Einwohner]]''' von 1871 mit der 1906 erreichten Zahl von 100.000 vergleicht - Erfurt war nunmehr erste und lange Zeit einzige Großstadt Thüringens. Nach der Eingemeindung '''[[Denkmal_Eingemeindung_Ilversgehofen|Ilversgehofens]]''' 1911 zählte die Stadt 1914 schließlich schon 130.000 Einwohner. Sie bot nunmehr das Bild einer spannungsreichen Klassengesellschaft des Industriezeitalters.
 
Das Bürgertum mit einer exklusiven Honoratiorenschicht an der Spitze beanspruchte eine Führungsstellung, wie sie in der Kommunalpolitik und im Kulturbereich (Vereine, '''[[Geschichte Erfurter Museen|Museen]]''', öffentliches Leben) zum Ausdruck kam. Am Nationalismus der Kaiserzeit orientiert, symbolisiert u.a. im '''[[Kriegerdenkmal Erfurt|Kriegerdenkmal]]''' (1876), '''[[Kaiser_Wilhelm_Denkmal_Erfurt|Kaiser-Wilhelm-Denkmal]]''' (1900), '''[[Bismarckturm Erfurt|Bismarckturm]]''' (1901) und zahlreichen Feierlichkeiten, lehnten sich die Bürger zunehmend an den Staat an. Mit Begeisterung verfolgte man den Aufstieg Deutschlands zur Flotten- und Kolonialmacht, an dem der in Erfurt gebürtige Konsul '''[[Wilhelm Knappe]]''', Schöpfer der '''[[Erfurter Südseesammlung]]''', seinen Anteil hatte. Zudem hatte sich in Erfurt ein starkes preußisches Landesbewusstsein entwickelt; Preußen glaubte man inmitten der thüringischen Kleinstaatenwelt - bis 1918 drängten sich hier noch acht souveräne Fürstenstaaten (Sachsen-Weimar-Eisenach, -Gotha und Coburg, -Altenburg, -Meinigen; Schwarzburg-Sondershausen, -Rudolstadt; Reuß ä. L./Greiz, Reuß j. L./Gera) - ganz wesentlich den Aufstieg zur modernen Industriemetrolpole zu verdanken.
 
Große Teile der Arbeiterschaft dagegen strebten unter Führung der Sozialdemokratie nach demokratischer Emanzipation und sozialen Verbesserungen. Nach Beendigung der Bismarckschen Sozialistengesetze (1878-90) fand im Oktober 1891 im Kaisersaal unter Leitung von August Bebel und Wilhelm Liebknecht der '''[[Erfurter Parteitag der SPD 1891|Erfurter Parteitag der SPD]]''' statt, auf dem das wegweisende Erfurter Programm beschlossen wurde. Die Erfurter '''[[SPD Erfurt|SPD]]''' nahm wie die Gesamtpartei einen kontinuierlichen Aufschwung und konnte 1912 erstmals das Mandat im Erfurter Reichstagswahlkreis gewinnen. Dem Erfurter Arbeitermilieu der späten Kaiserzeit mit seinen Traditionen wie dem Feiertag des '''[[Feiertag 1. Mai|1. Mai]]''' entstammt auch eine der schillerndsten Persönlichkeiten der internationalen Arbeiterbewegung, der "rote Propaganda-Zar" '''[[Willi Münzenberg Erfurt|Willi Münzenberg]]'''.
 
 
'''Das "Zeitalter der Extreme" (20. Jh.)'''
 
Das Zeitalter der Hochindustrialisierung und Urbanisierung hatte in Erfurt also bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begonnen und sich um 1900 voll ausgeprägt. Solche pulsierenden Metropolen der Moderne wurden die Hauptschauplätze des "kurzen 20. Jahrhunderts", das mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 seinen Anfang nahm. Jene mit dem britischen Historiker Eric Hobsbawm oft als "Zeitalter der Extreme" umschriebenen Jahrzehnte bis zum Ende des globalen Ost-West-Konfliktes um 1990 waren gekennzeichnet von zwei verheerenden Weltkriegen, von großen sozialen und politischen Umbrüchen, Gewalt, Bürgerkrieg, extremen Ideologien und diktatorischen Staatswesen. All diese Extreme haben auch die Entwicklung der Stadt Erfurt nachhaltig beeinflusst.
 
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit seiner nationalen Euphorie schien zunächst die tiefe Zerklüftung der Gesellschaft zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft zu überbrücken. Doch jener "Geist des August 1914" sollte rasch mit den großen Opfern an den Fronten und in der Heimat verfliegen. So kam es schließlich zur '''[[Novemberrevolution Erfurt|Novemberrevolution 1918]]''' in Deutschland, in deren Folge die Monarchie verschwandt und die Republik ausgerufen wurde. In Erfurt hatte sich die Revolution mit der Machtübernahme durch den Arbeiter- und Soldatenrat am 9. November unblutig vollzogen.
 
Die Zeit der '''[[Weimarer Republik]]''' 1918-1933 war von zunehmender Radikalisierung der gesellschaftlichen Fronten gekennzeichnet. Schon seit Februar 1919 kam es zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, die im Kapp-Putsch vom März 1920 eskalierten. In jenen Tagen standen sich Bürger, Polizei und Militär auf der einen und organisierte Arbeiter auf der anderen Seite förmlich wie im Krieg gegenüber, was zu acht Todesopfern und vielen z.T. schwer Verletzten führte. Dennoch kam es nach dem "heißen Herbst" 1923 mit Hochinflation und radikalen Putschversuchen (Hitler-Putsch in München) zu einer Phase relativer Beruhigung 1924-1929, die auch zu einem gewissen Aufschwung in Wirtschaft und '''[[Städtebau_Weimarer_Republik|Städtebau]]''' (Hanse-Viertel und "Gartenstadt"-Siedlungen, '''[[Nordbad Erfurt|Nordbad]]''' 1925/29, '''[[Flughafen Erfurt|Flughafen]]''' am Roten Berg 1925, Mitteldeutsche Kampfbahn, das heutige '''[[Steigerwaldstadion Erfurt|Steigerwaldstadion]]''' 1931) führte. Erfurt stieg zu einen Zentrum des Bauens im '''[[Bauhaus Erfurt|Bauhaus-Stil]]''' und des '''[[Angermuseum_Erfurt_Expressionismus|Expressionismus]]''' auf. In dieser Zeit haben sich der liberale Oberbürgermeister '''[[Oberbürgermeister Bruno Mann|Bruno Mann]]''' und Regierungspräsident '''[[Fritz Tiedemann]]''' große Verdienste erworben. Die Vorbehalte in der Bevölkerung gegen Republik und kulturelle Moderne wurden dagegen von rechter Seite etwa durch den Heimatmaler '''[[Walter Corsep]]''' mobilisiert.
 
Die relative Beruhigung jener "Goldenen Zwanziger Jahre" wurde jäh beendet von der Weltwirtschaftskrise ab Ende 1929, durch die 1932 jeder dritte Erfurter ohne Arbeit war. Jener Prozess führte zu einer weiteren politischen Polarisierung, die der linksradikalen KPD sowie der rechtsradikalen NSDAP zugute kam. Im Bürgertum, insbesondere im kleinbürgerlichen Mittelstand, führte die totale Krise der späten Republik zu einer förmlichen '''[[Flucht in die nationale Volksgemeinschaft]]''' des "nationalen Messias" Adolf Hitler, wie sie sich u.a. in den Wahlergebnissen niederschlug. Der reichsweit für Schlagzeilen sorgende Kommunalwahlsieg des skandalumwitterten Antisemiten und Wochenblattherausgebers '''[[Adolf Schmalix]]''' im November 1929 hatte bereits verdeutlicht, wie weit das Vertrauen der Erfurter in ihre alte konservativ-liberale Honoratiorenschaft und deren Parteien geschwunden war.
 
Viele Bürger fühlten sich nach dem 30. Januar 1933, dem Beginn der Hitlerschen "Machtergreifung", zunächst in ihrer Option für den '''[[Erfurt im Nationalsozialismus|Nationalsozialismus]]''' bestätigt. Das Einkehren von "Ruhe und Ordnung", der wirtschaftliche Aufschwung mit dem Verschwinden der Arbeitslosigkeit und die außenpolitischen Erfolge taten das ihrige. Der gewaltsamen Zerschlagung der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung trat die Propaganda von der Versöhnung der Geistes- und Handarbeiter, die ideelle Aufwertung des Arbeiterstandes gegenüber. Die neue "Deutsche Arbeitsfront" (DAF) sorgte mit ihrer Organisation "Kraft durch Freude" (KdF) hinfort wesentlich mit dafür, dass der Nationalsozialismus von immer mehr "Volksgenossen" als sozial fortschrittlich empfunden wurde. Zu den bedeutenden Ereignissen jener Zeit gehörte der '''[[Deutscher_Historikertag_Erfurt_1937|Deutsche Historikertag]]''' 1937.
 
Die Zeit des '''[[Erfurt im Nationalsozialismus|Dritten Reiches]]''' war von der Umgestaltung nahezu aller Gesellschaftsbereiche gekennzeichnet. Die kommunale Selbstverwaltung fiel bis 1935 schrittweise der "Gleichschaltung" zum Opfer. Von nun an herrschten die NS-Oberbürgermeister, v.a. der berüchtigte '''[[Oberbürgermeister in Erfurt|Walter Kießling]]''' (1936-1945). Die NSDAP versuchte mit ihren "Gliederungen" die Menschen in allen Alters-, Berufs- und Interessengruppen zu erfassen. Trotz des weiteren Ausbaus von Wirtschaft und Garnison in Erfurt bildete '''[[Fritz Sauckel|Fritz Sauckels]]''' Gauhauptstadt Weimar das NS-Machtzentrum. Denn Thüringen blieb zwar formal bis 1945 in das Land Thüringen und den preußischen Regierungsbezirk Erfurt zweigeteilt, doch der NSDAP-Gau umfasste das ganze Gebiet, wodurch Weimar faktisch zur gesamtthüringischen Hauptstadt aufstieg.
 
Zu den Charakteristika der braunen Diktatur gehörte von Beginn an der '''[[Antisemitismus in Erfurt|Antisemitismus]]'''. Die Entrechtung, Verfolgung und Deportation der Juden geschah auch in Erfurt inmitten der Gesellschaft. Im Stadtbild erinnern heute u.a. '''[[Denknadeln Erfurt|Denknadeln]]''' an die Opfer des Holocaust. Zu ihnen zählen verdienstvolle Bürger wie der Leiter des Städtischen Krankenhauses '''[[Alfred Machol Denkmal|Alfred Machol]]'''. Den vermeintlichen Höhepunkt bildete die "Reichskristallnacht" vom 9. November 1938, der u.a. die Synagoge am Kartäuserring ('''[[Juri-Gagarin-Ring]]''') durch Flammen zum Opfer fiel. Sie war aber nur ein Vorgeschmack auf die "Endlösung der Judenfrage". Wenn auch dieses größte Verbrechen des Nationalsozialismus weit weg in den Vernichtungslagern des Ostens vonstatten ging, war Erfurt doch mittelbar in das Geschehen eingebunden. Die ortsansässige Firma '''[[Topf_und_Söhne_Erfurt|J.A. Topf & Söhne]]''', führendes Unternehmen für Mälzerei-, Speicher- und Feuerungsanlagen, lieferte für die Konzentrationslager vom nahen '''[[Buchenwaldblick Erfurt|Buchenwald]]''' bis hin zu Auschwitz die Verbrennungsöfen und ihre Ingenieure machten "Verbesserungsvorschläge" für die Gaskammern in Auschwitz.
 
Im Zweiten Weltkrieg 1939-1945 stärkten zunächst die Anfangserfolge das Prestige des "Führerstaates". Später sorgten die riesigen Opfer an den Fronten und im heimischen Luftkrieg eher für verbitterte Entschlossenheit bis zum Kriegsende, das in Erfurt am 12. April 1945 mit der Besetzung durch US-Truppen erfolgte. Dem vergleichsweise glimpflichen Ausgang der Luftangriffe und Kampfhandlungen, durch den rund 6.500 Bürger der Stadt als Soldaten und Zivilopfer ihr Leben verloren, verdankt Erfurt sein bis heute in weiten Teilen erhaltenes historisches Stadtbild - der Zerstörungsgrad betrug "nur" 5% (im Vergleich: Nordhausen 55%, Jena 15%).
 
Am 3. Juli 1945 übernahm die Sowjetarmee entsprechend den Beschlüssen der Konferenz von Jalta (Februar 1945) von den US-Truppen die Stadt. Der mit der Nachkriegszeit einsetzende Aufbau der SED-Diktatur in der SBZ bzw. der 1949 gegründeten DDR mündete zunächst in den Volksaufstand vom 17. Juni 1953, der auch in Erfurt zu heftigen Streiks und Protesten führte. Spätestens mit dem Mauerbau vom August 1961 musste sich die Bevölkerung aber mit ihrer Situation arrangieren. Es entstand für viele Menschen die "heile Welt der Diktatur" (Stefan Wolle), das Leben in privaten oder kollektiven Nischen und beruflicher Pflichterfüllung. Das bedeutendste Ereignis des 20. Jahrhunderts in Erfurt, das erste deutsch-deutsche '''[[Erfurter Gipfeltreffen|Gipfeltreffen]]''' Brandt-Stoph 1970 im '''[[Erfurter Hof]]''' zeigte jedoch eindrucksvoll, wie stark die nationalen Einheitshoffnungen unter den Erfurtern noch ausgeprägt waren. Ihre Rufe "Willy Brandt ans Fenster!" gingen um die ganze Welt.
 
Im 1945 erstmals im heutigen Gebietsumfang entstandenen Land Thüringen hatte Erfurt ab 1948 die Hauptstadtrolle übernommen. Die Auflösung der Länder in der DDR 1952 setzte dem freilich ein rasches Ende. Doch auch als thüringische Bezirksstadt (neben Gera und Suhl) nahm Erfurt sowohl im wirtschaftlich-infrastrukturellen (Sitz großer Kombinate, internationaler '''[[Flughafen Erfurt|Flughafen]]''', 1972 200.000 '''[[Bevölkerungsentwicklung in Erfurt|Einwohner]]''') wie auch im kulturell-wissenschaftlichen Bereich (1953 Pädagogische Hochschule, 1954 '''[[Medizinische Akademie Erfurt|Medizinische Akademie]]''', 1959 '''[[Zoopark Erfurt|Thüringer Zoopark]]''', 1961 '''[[Iga / egapark Erfurt|iga]]''') eine kontinuierliche Weiterentwicklung. Im Norden und Südwesten (sowie am '''[[Juri-Gagarin-Ring]]''') entstanden große Plattenbaugebiete, die das Stadtbild einschneidend veränderten. In den 1980er Jahren ließ sich allerdings der Niedergang des "real existierenden Sozialismus" nicht mehr übersehen, wie er sich u.a. im Verfall großer Teile der Altstadt - dem sollte mit angepassten '''[[Musterplattenbau_Johannesstraße|Plattenbauten]]''' begegntet werden -  und in maroden Industrieanlagen zeigte. Mit der '''[[Friedliche Revolution und Landesgründung in Thüringen 1989/90|friedlichen Revolution]]''' vom Herbst 1989, der deutschen Wiedervereinigung und der Wiedergründung des Landes Thüringen 1990 kam für Erfurt das Ende der SED-Diktatur und fand zugleich seine historische Zentralortstellung endgültig ihren formalen Ausdruck.
 
Heute ist Erfurt die '''[[Landeshauptstadt Erfurt|Hauptstadt]]''' des Freistaates Thüringen, seine moderne Metropole und Verkehrdrehscheibe. Der Wandel von der Industrie- zur Verwaltungs- und Dienstleistungsstadt war fraglos mit schmerzhaften Einschnitten verbunden und sorgte auch für einen erheblichen '''[[Bevölkerungsentwicklung_in_Erfurt|Bevölkerungsrückgang]]''' (von 220.000 auf rund 200.000 Einwohner). Mittlerweile ist dieser Prozess jedoch weitgehend abgeschlossen und konnte nicht zuletzt die Bevölkerungsentwicklung sogar umgekehrt werden. Neue Branchen wie die Logistik sorgen für wirtschaftliche Belebung. Ein tragisches Ereignis war der Amoklauf am '''[[Gutenberg Gymnasium Denkmal Erfurt|Gutenberggymnasium]]''' 2002, das aber nicht über das gute Niveau des Bildungsbereiches im nationalen Vergleich (Pisa-Studien) hinwegtäuschen sollte. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Entwicklungen, die das Gesicht der Stadt deutlich zum Positiven hin verändert haben, wie die Sanierung der Bausubstanz, v.a. der historischen '''[[Altstadt]]''', die sich weiter zum Touristenmagneten entwickelt hat, der Ausbau des Stadtbahnnetzes sowie des Straßennetzes mit neuem Autobahnkreuz und kompletter Stadtumfahrung, der Sitz des Bundesarbeitsgerichtes, mdr-Landesfunkhauses, Kinderkanals Ki-Ka, der Ausbau der Fachhochschule Erfurt und die 1994 auf Initiative der '''[[Universitätsgesellschaft Erfurt|Universitätsgesellschaft]]''' erfolgte Wiedergründung der '''[[Universität Erfurt]]''' u.v.a.m. 2021 wird die traditionsreiche '''[[Blumenstadt Erfurt|Blumenstadt]]''' Ausrichter der '''[[Bundesgartenschau Erfurt 2021|Bundesgartenschau]]''' sein, wobei der '''[[Iga / egapark Erfurt|egapark]]''' das Herzstück bilden soll. Mit seinem '''[[Jüdisches_Leben_Erfurt|mittelalterlich-jüdischen Erbe]]''' strebt Erfurt einen Platz auf der UNESCO-Welterbeliste an.
 
('''[[Steffen Raßloff|Dr. Steffen Raßloff]]''')




'''Literaturtipp:'''
'''> [[Literatur Geschichte Erfurt|weitere Literatur zur Stadtgeschichte]]'''


'''Steffen Raßloff: [[Geschichte der Stadt Erfurt Rassloff|Geschichte der Stadt Erfurt]].''' Erfurt 2012.
'''> [[Serien_zur_Erfurter_Stadt-_und_Kulturgeschichte|Presseserien zur Erfurter Stadt- und Kulturgeschichte]]'''


''(Präsentation am 11. September 2012 um 19.00 Uhr im Stadtmuseum Erfurt)''
'''> [[Stadtmuseum Erfurt]]'''


'''> [[ErfurterGeschichtsverein|Erfurter Geschichtsverein]]'''


> '''[[Literatur Geschichte Erfurt|weitere Literatur zur Stadtgeschichte]]'''
'''> [[Terra X Erfurt|Erfurt in der ZDF-Reihe "Deutschland von oben" bei Terra X]]'''

Version vom 27. Januar 2020, 11:57 Uhr

Geschichte der Stadt Erfurt

Die Landeshauptstadt Erfurt war seit jeher der Zentralort Thüringens und im Mittelalter eine der glanzvollen Metropolen des Reiches.


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Hartmann Schedel hat in seiner berühmten Weltchronik von 1493 Erfurt als das „Haupt des Thüringer Landes“ bezeichnet. Diese Stellung zieht sich wie ein roter Faden durch die Erfurter Geschichte – von den bedeutenden Funden aus der Zeit des Thüringer Königreiches im 6. Jahrhundert bis hin zur heutigen Landeshauptstadt des Freistaates Thüringen. Darüber hinaus gehörte Erfurt im Mittelalter zu den großen Metropolen des Reiches. Noch immer ist dies in seiner Altstadt mit ihren zahlreichen Kulturdenkmalen nachvollziehbar. Mit den dreizehn Jahrhunderten schriftlich verbriefter Geschichte - die Kulturgeschichte im weiteren Sinne reicht bis zum ersten Faustkeil 30.000 Jahre zurück - sind viele bedeutende Ereignisse und Persönlichkeiten verbunden.

Die Mittelaltermetropole tritt zunächst als ein königlicher Zentralort ins Licht der Geschichte, in dem wichtige Reichstage stattfanden. 742 von Bonifatius zum Sitz eines Bistums bestimmt, blieb es trotz der Angliederung an das Bistum Mainz das kirchliche Zentrum Thüringens. Um 1000 rückte der Mainzer Erzbischof zwar auch zum weltlichen Stadtherrn auf, doch seit dem 13. Jahrhundert erlangte Erfurt reichsstadtähnliche Autonomie. Symbolort jener kommunalen Selbstständigkeit war das Rathaus am Fischmarkt. Mit der Wasserburg Kapellendorf verfügte Erfurt sogar über ein Reichslehen, hinzu kamen zahlreiche Besitzungen im Umland wie das Forsthaus Willrode. Die Handels- und Kulturmetropole sowie Hansestadt an der Via regia, umgeben von zwei mächtigen Mauerringen und überstrahlt von den Stadtkronen Dom und Peterskirche, blühte v.a. dank des Blaufärbemittels Waid auf.

1379 erhielt Erfurt das Privileg für die älteste Universität im heutigen Deutschland, deren bekanntester Student und Lehrer Martin Luther war. Mit dessen Eintritt ins Erfurter Augustinerkloster 1505 begann das Ringen um die Grundeinsichten der Reformation. Luthers Kirchenerneuerung fiel hier auf fruchtbaren Boden und wurde besonders von Johannes Lang, dem "Reformator Erfurts", getragen. Der Erfurter Humanistenkreis in der Engelsburg um "Poetenkönig" Helius Eobanus Hessus, aus dessen Reihen die legendären Dunkelmännerbriefe hervor gingen, trug ebenfalls zur kulturellen Blüte bei. Zuvor wirkten bereits bedeutende Denker des Mittelalters wie Meister Eckhart in Erfurt. Auch die jüdische Gemeinde hat u.a. mit der ältesten erhaltenen Synagoge Mitteleuropas beeindruckende Spuren hinterlassen.

An der Schwelle zur Neuzeit war der Höhepunkt der Entwicklung allerdings überschritten. 1664 folgte die Unterwerfung unter Mainz. Aus jener Zeit leuchtet allein die Statthalterschaft Karl Theodor von Dalbergs hervor, zu dessen Kreis auch Goethe, Schiller, Wieland, Humboldt und Herder zählten. Zugleich wurzelt in dieser Epoche der Aufschwung des Gartenbaus, der Erfurt später den weltweiten Ruf einer Blumenstadt einbringen sollte. Auch als Bachstadt darf sich Erfurt bezeichnen. Die 800-jährige Bindung an Mainz endete 1802 mit dem Übergang an Preußen, nur kurzzeitig unterbrochen von der "Franzosenzeit" 1806-1814 mit dem Erfurter Fürstenkongress Napoelons 1808. Nach den Reichseinigungskriegen (siehe: Schlacht bei Langensalza 1866) und der Reichseinigung 1871 stieg Erfurt zur modernen Industriegroßstadt auf, in der die SPD 1891 ihr wegweisendes Erfurter Programm verabschiedete. Ein wichtiger Impulsgeber hierfür war der Anschluss an die Eisenbahn 1847. Zugleich bauten die Preußen die Festung und Garnison großzügig aus.

Im 20. Jahrhundert folgte das "Zeitalter der Extreme" (Eric Hobsbawm) mit zwei Weltkriegen und Diktaturen. Auslöser war der Erste Weltkrieg 1914/18, auf den nach der Novemberrevolution die kurzlebige Weimarer Republik folgte, in der Erfurt einen kulturellen und städtbaulichen Aufschwung erlebte. Hieran erinnern etwa die zahlreichen Bauwerke im Bauhaus-Stil. Für die Verstrickung von Wirtschaft und Gesellschaft in die Verbrechen des Nationalsozialismus 1933-1945 steht die Firma J.A. Topf & Söhne, Hersteller der Öfen für Auschwitz. Dank relativ geringer Zerstörungen durch Luftangriffe konnte Erfurt sein historisches Stadtbild im Zweiten Weltkrieg weitgehend bewahren.

Nach amerikanischer Befreiung und raschem Besatzerwechsel gehörte die Stadt seit 1945/49 zur Sowjetischen Besatzungszone bzw. DDR. Im neuen, bis 1952 bestehenden Land Thüringen übernahm Erfurt kurzzeitig die Hauptstadtrolle von Weimar, woran das heutige Landtagshochhaus erinnert, die sogenannte Eierkiste. Am 17. Juni 1953 kam es zum Aufstand gegen die SED-Herrschaft; das erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen 1970 im Erfurter Hof mit dem Jubel der Erfurter für Willy Brandt wies bereits auf die Friedliche Revolution und deutsche Wiedervereinigung 1989/90 voraus. Mit der ersten Besetzung einer Stasi-Bezirksverwaltung am 4. Dezember 1989 hatte Erfurt ein DDR-weites Signal gesetzt. Dank der "Wende" konnte auch die 1988 geschlossene Städtepartnerschaft mit Mainz mit Leben erfüllt werden.

Heute ist Erfurt eine Großstadt mit beschaulicher Lebensqualität. Als Domstadt, Lutherstadt und Blumenstadt inmitten des Grünen Herzen Deutschlands zieht es viele Touristen an. Einen ganz besonderen Charakter verleiht Erfurt, wenngleich der DDR-Städtebau keineswegs spurlos an ihm vorbeigegangen ist, seine weitgehend erhaltene Altstadt. Mit dem mittelalterlich-jüdischen Erbe ist es sogar für die Aufnahme auf die UNESCO-Welterbeliste vorgeschlagen. Die Umstrukturierung von der Industriestadt zur Dienstleistungs- und Verwaltungsstadt ist weitgehend vollzogen, neue Wirtschaftszweige weisen in die Zukunft. Dies gilt auch für den Kindermedienstandort, die Hochschullandschaft mit der 1994 wiedergegründeten Universität und der Fachhochschule sowie das seit 1999 hier angesiedelte Bundesarbeitsgericht. Nicht zuletzt fand die alte Rolle Erfurts als „heimliche Hauptstadt“ Thüringens 1990 ihre Umwandlung zur Landeshauptstadt. Große Impulse verspricht man sich von dem 2017 eingeweihten ICE-Drehkreuz Erfurt.

(Dr. Steffen Raßloff)


Zu den Kapiteln der Stadtgeschichte: > I. Frühgeschichte und Stadtwerdung (30.000 v. Chr. bis 12. Jh.) > II. Mittelalterliche Handels- und Kulturmetropole (13. bis 15. Jh.) > III. Schleichender Niedergang und kurmainzische Zeit (16. bis 18. Jh.) > IV. Napoleonische Zeit und Wiederaufstieg unter Preußen (19. Jh.) > V. Das "Zeitalter der Extreme" (20. Jh.)


Lesetipps:

Steffen Raßloff: Geschichte der Stadt Erfurt. Erfurt 2012 (5. Auflage 2019).

Steffen Raßloff: Kleine Geschichte der Stadt Erfurt. Ilmenau 2016 (2. Auflage 2020).


> weitere Literatur zur Stadtgeschichte

> Presseserien zur Erfurter Stadt- und Kulturgeschichte

> Stadtmuseum Erfurt

> Erfurter Geschichtsverein

> Erfurt in der ZDF-Reihe "Deutschland von oben" bei Terra X