Antisemitismus in Thüringen

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Antisemitismus in Thüringen

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Die Anfeindung der Juden ist das „älteste soziale, kulturelle, religiöse, politische Vorurteil der Menschheit“ (Wolfgang Benz). Seit zwei Jahrtausenden erhitzt “die jüdische Frage” immer wieder die Gemüter. In der über ganz Europa und darüber hinaus verteilten Diaspora mussten die Juden als gesellschaftliche Außenseiter besonders in Krisensituationen regelmäßig Diskriminierungen bis hin zum Massenmord über sich ergehen lassen. Der Antisemitismus seit dem 19. Jahrhundert ist die jüngste Ausformung der Judenfeindschaft. Der mit der Aufklärung verstärkt einsetzende Emanzipationsprozess der Juden hatte zu weitgehender rechtlicher Absicherung und Gleichberechtigung in den deutschen Ländern geführt. Aber auch noch im Deutschen Kaiserreich nach 1871 blieben die Juden in vielerlei Hinsicht „Bürger zweiter Klasse“. Überdies entwickelte sich aus der vermeintlich zu weitgehenden Emanzipation seit den 1880er Jahren der moderne Antisemitismus. Er machte die Juden für viele Probleme der entstehenden industriell-urbanen Moderne verantwortlich. Zugleich überlagerte zunehmend der pseudowissenschaftliche Rassegedanke die traditionellen religiös-kulturellen Vorbehalte.

Starken Auftrieb erhielt der Antisemitismus in den Krisenjahren nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg 1914/18. Zu ihrem radikalsten Verfechter wurde die rechtsextreme NSDAP Adolf Hitlers. Thüringen spielte in der Weimarer Republik eine Vorreiterrolle für die NS-Bewegung und die Verbreitung des Antisemitismus. 1924 rückten völkische Antisemiten in Weimar erstmals als einflussreiche Fraktion in einen Landtag ein, 1930/31 übernahmen die Nationalsozialisten in der “Ära Frick” erstmals Regierungsverantwortung und vollzogen mit der Regierung Sauckel 1932 die “vorgezogene Machtergreifung”. Der Antisemitismus gipfelte schließlich im radikalen Rassenwahn des Dritten Reiches 1933-1945, der zur Ermordung von sechs Millionen europäischer Juden im Holocaust führte.


Antisemitismus im 19. Jahrhundert

Das 19. Jahrhundert brachte für die deutschen Juden in einem langwierigen Prozess die gesetzliche Gleichstellung. Damit endeten Jahrhunderte voller Unterdrückung und Verfolgung. Die deutsche Reichsgründung 1871 machte sie endgültig zu gleichberechtigten Staatsbürgern. Als Vertreter des liberalen Bürgertums nutzten sie auch in Thüringen zunehmend ihre politischen Rechte, gehörten zur Honoratiorenschicht ihrer Städte und Gemeinden und rückten seit den 1830er Jahren in die kommunalen und regionalen Parlamente ein. Diese politisch-gesellschaftliche Emanzipation hatte viel mit dem teils steilen sozialen Aufstieg jüdischer Familien zu tun. Der lange Ausschluss aus allen “ehrbaren” handwerklichen Berufen hatte viele Juden zu erfolgreichen Intellektuellen, Ärzten, Rechtsanwälten, Unternehmern oder Bankiers werden lassen. Die Familie Simson in Suhl begründete eines der erfolgreichsten Fahrzeug- und Waffenunternehmen in Deutschland, Hermann Tietz (“Hertie”) legte 1882 in Gera den Grundstein für eine führende Warenhauskette, in Erfurt gehörten die Gartenbauunternehmer Benary, die Schuhfabrikanten Hess und die Bankiers Moos zur städtischen Führungsschicht.

Andererseits lieferte der Aufstieg jüdischer Bürger aber auch den Vorwand für den modernen Antisemitismus. Einen starken Schub hatte die Abneigung gegen „Juda“ nach 1873 erhalten. Auf den „Gründerboom“ seit 1871 war der „Gründerkrach“ gefolgt, der die überhitzte Konjunktur nach der Errichtung des Deutschen Kaiserreiches abrupt beendete. Erstmals seit längerer Zeit mussten die Juden wieder als Schuldige herhalten, und zwar diesmal für die Schattenseiten der modernen kapitalistischen Industriegesellschaft, die v.a. der bürgerliche Mittelstand als existenzgefährdend empfand. Aber auch im gehobenen Bürgertum zeigte sich eine virulente Abneigung, die bis in liberale Kreise hineinreichte. Der angesehene nationalliberale Berliner Geschichtsprofessor Heinrich von Treitschke stiftete 1879 das Motto: “Die Juden sind unser Unglück!” Seit den 1880er Jahren setzte sich für diese Geisteshaltung der Begriff Antisemitismus durch.

Die Juden wurden zu einer nicht integrierbaren fremden Rasse erklärt, die die Einheit der deutschen Nation, die “innere Reichsgründung” seit 1871 gefährdeten. Bald kam der Vorwurf hinzu, auch Motor der internationalen Arbeiterbewegung, der “roten Gefahr” von links zu sein. Deren bedeutendster Theoretiker Karl Marx war wie einige bekannte linke Intellektuelle und SPD-Politiker jüdischer Herkunft. Eine starke Wurzel hatte der Antisemitismus in der polemisch überspitzten Feststellung, dass die Juden im Verhältnis zu ihrem geringen Bevölkerungsanteil von rund einem Prozent überdurchschnittlich stark in wirtschafts- und bildungsbürgerlichen Spitzenpositionen zu finden seien. Dies gipfelte in der Behauptung, das “internationale Judentum” lebe als reicher “Schmarotzer” auf Kosten anderer Nationen und strebe die Weltherrschaft an. Es wurden Forderungen erhoben, die Juden in ihrer politisch-gesellschaftlichen Stellung durch diverse Diskriminierungen einzuschränken. Allerdings blieb der organisierte politische Antisemitismus, obwohl seine Vorwürfe das öffentliche Leben zunehmend vergifteten, bis zum Ersten Weltkrieg 1914/18 noch ein Randphänomen.


Radikalisierung nach dem Ersten Weltkrieg

Mit der Novemberrevolution und der Gründung der Weimarer Republik 1918 erreichte die Emanzipation der Juden einen Höhepunkt, rückten viele jüdische Bürger sogar in hohe Positionen von Staat und Gesellschaft auf. Andererseits brachte der verlorene Weltkrieg aber auch eine Verschärfung der alten Vorbehalte mit sich. Insbesondere die politische Rechte erkor sie sich „die Juden“ zum universalen Sündenbock. Im Oktober 1918 hatte der nationalistische Alldeutsche Verband dazu aufgerufen, „die Lage zu Fanfaren gegen das Judentum und die Juden als Blitzableiter für alles Unrecht zu benutzen“.

In Thüringen verband sich der Übergang von der Monarchie zur Republik mit dem Ende der jahrhundertealten Kleinstaaterei. Am 1. Mai 1920 trat der Freistaat Thüringen mit der Hauptstadt Weimar ins Leben. Die Machtverhältnisse im Landtag brachten es dabei mit sich, dass Thüringen eine weithin beachtete Vorreiterrolle für die völkisch-antisemitische Bewegung bzw. die NSDAP spielte. Aber auch in anderen Parteien und Gesellschaftsgruppen war der Antisemitismus fest verwurzelt. Die neue Republik galt vielen als von den Juden getragene „undeutsche“ Staatsform. Um soUmso mehr forcierte die Rechte die Schlagwörter von der „Judenrepublik“, der „Judokratie“. Häufig konzentrierte sie sich hierbei in perfider Weise auf einzelne Personen, wie den 1922 ermordeten Reichsaußenminister Walther Rathenau oder den Berliner Staatsrechtler Hugo Preuß, der die Weimarer Reichsverfassung wesentlich mitgestaltet hatte. Eine ähnliche Rolle wies man in Thüringen dem Jenaer Juristen Eduard Rosenthal zu, dem „Vater“ der Thüringer Verfassung von 1920/21.

Die von Rechts außen konstruierte Verbindung von Judentum, Demokratie und Marxismus entwickelte in Thüringen aufgrund einer starken politischen Polarisierung wachsende Wirkungskraft. Die erste Landesregierung aus linksliberaler DDP, SPD und USPD unter Arnold Paulssen (DDP) 1920/21 war rasch gescheitert. Ihr folgte die SPD-USPD-Regierung unter August Frölich (SPD). Das „rote Thüringen“ 1921/23 heizte die politische Atmosphäre im Land auf. Kulturelle Einschnitte wie die Einführung neuer Feiertage (1. Mai und 9. November) auf Kosten konfessioneller Gedenktage, eine Reform des Bildungswesens („Greilsche Schulreform“) oder die Förderung des „Staatlichen Bauhauses“ in Weimar brachten das bürgerlich-nationale Lager auf die Barrikaden. Die von extremer Wirtschaftskrise und Inflation begleitete Amtszeit Frölichs gipfelte in der „Volksfrontregierung“ von SPD und KPD im Herbst 1923. Die Konfrontation zweier unversöhnlicher Blöcke hatte sich verfestigt.

Seit 1920 musste sich dieser Landtag immer wieder mit antisemitischen Themen befassen. Eine Debatte über das “Ostjudenproblem” am 4. Dezember 1920 kann hierbei als beispielhaft gelten. Zunächst erklärte der SPD-Abgeordnete Louis Rennert: „Die allgemeine antisemitische Hetze ist dasjenige, was im Hintergrund schlummert. Es handelt sich darum, daß unter dem Deckmantel der Judenhetze die politischen Linksparteien getroffen werden sollen, mit Einschluß der Demokraten.“ Auch die DDP bezog mit Marie Schulz klar Position: „Wir halten den Antisemitismus für eine überaus gefährliche Volkskrankheit, die sich jetzt im Gefolge des Krieges zu einer ganz besonderen Höhe und Gefährlichkeit entwickelt hat. Der Ursprung ist ganz entschieden in politischen Motiven zu suchen, denn diese Judenhetze geht aus von den Kreisen der Alldeutschen, die es nötig hatten, ihre Beteiligung an dem Ursprung des Krieges abzuwälzen.“ In seiner Gegenrede betonte der konservative DNVP-Abgeordnete Friedrich von Eichel-Streiber, man müsse das Problem ernst nehmen angesichts der großen sozialen Not des deutschen Volkes. Daher könne man „fremden Völkern“ kein Gastrecht einräumen, die „Wucher, Schiebertum, Kettenhandel und Schleichhandel“ weiter forcierten. Das Feindbild der „Masse“ von fremdartigen „Ostenjuden“ war bei den bürgerlich-nationalen Rechtsparteien, beim Thüringer Landbund, der DNVP und der rechtsliberalen DVP, ebenso präsent wie die Vorwürfe gegenüber den deutschen Juden, sie seien Drückeberger und Kriegsgewinnler. Im Landtag bemühte die KPD bisweilen eine “linke” Variante des Antisemitismus, die auf den “jüdischen Kapitalisten” zielte. Dennoch zog sich zwischen den politischen Lagern eine klare Trennlinie: zum hasserfüllten Antisemitismus bekannten sich antidemokratische Parteien und Gruppen von rechts.

1924 übernahmen die bürgerlichen Parteien (DDP, DVP, DNVP, Landbund) als „Thüringer Ordnungsbund“ (TOB) die Regierung. Da ihnen die absolute Mehrheit versagt blieb - 35 TOB-Abgeordneten standen 30 linke Abgeordnete (SPD 17, KPD 13) bei 72 Mandaten gegenüber - waren sie auf die sieben Abgeordneten der „Vereinigten Völkischen Liste“ einschließlich der NSDAP angewiesen. Erstmals waren rechtsradikale Abgeordnete in ein deutsches Landesparlament eingezogen. Als „Zünglein an der Waage“ entfachten sie unter Fraktionsführer Artur Dinter, 1925-1927 erster NSDAP-Gauleiter, eine heftige Propagandaschlacht. Die Stimmen für die Wahl der bürgerlichen Landesregierung unter Richard Leutheußer (DVP) knüpfte er an die Bedingung, „daß die Regierung nur aus deutschblütigen, nichtmarxistischen Männern besteht“. Ihr fiel mit dem jüdischen DDP-Regierungskandidaten Eduard Rosenthal eine der herausragenden Persönlichkeiten der thüringischen Demokratie zum Opfer. Weit über Thüringen hinaus hat auch die antisemitische Hetze gegenüber dem Weimarer Staatsbankdirektor Walter Loeb die Gemüter erhitzt, der im September 1924 sein Amt niederlegte. Von Seiten der Regierung hatte er keinerlei Unterstützung erhalten. Finanzminister Wilko von Klüchtzner (DNVP) soll auf Loebs Frage „Werde ich deswegen entlassen, weil ich Jude bin?“ erwidert haben: „Ich betrachte die Frage des Juden weniger von der religiösen Seite, sondern wie die Völkischen von der Rasseseite aus.“ Getragen vom Verständnis vieler bürgerlich-nationaler Volksvertreter konnte die völkisch-nationalsozialistische Landtagsfraktion immer wieder gegen die Juden hetzen. Das galt auch für die Debatten um das Weimarer Bauhaus, das 1925 nach Dessau übersiedelte. In Erfurt geriet der jüdische Schuhfabrikant Alfred Hess, der das Stadtmuseum und sein Haus zu einem Zentrum des Expressionismus gemacht hatte, ins Visier der Antisemiten. Das stereotype Schlagwort vom „jüdischen Kulturbolschewismus“ macht deutlich, dass der Kampf um die „deutsche Kultur“ auch in ihrem „Kernland“ starke antisemitische Züge trug.

Ab 1930 sollte der Antisemitismus in Thüringen sogar zur Staatsdoktrin werden – früher als im Reich und allen anderen Ländern. Erstmals rückte ein radikaler Antisemit in ein Ministeramt auf. Ähnlich wie 1924 waren nach der Landtagswahl Ende 1929 die bürgerlichen Parteien (23 Abgeordnete) gegenüber den Arbeiterparteien (24 Abgeordnete) bei der Regierungsbildung auf die 6-köpfige NSDAP-Fraktion angewiesen. Hitler persönlich setzte in Weimar die Berufung des verurteilten Münchner Hitler-Putsch-Teilnehmers Wilhelm Frick zum Innen- und Volksbildungsminister durch, der Thüringen zum „Experimentierfeld” für die nationalsozialistische Machtergreifung machen sollte. Frick ging sofort daran, seine Vorstellungen rücksichtslos umzusetzen. Neben machtpolitischen Maßnahmen zielte dies ganz wesentlich auf kulturell-weltanschauliche Bereiche. Der Erlass „Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum“ etwa sollte „fremdrassige Einflüße“ im Bereich Kultur und Unterhaltung ausschalten. Mit Paul Schultze-Naumburg trat ein prominenter Kulturrassist an die Spitze des ehemaligen Bauhauses, der mit der „entarteten Kunst“ im Weimarer Schlossmuseum aufräumte. Reichsweit für Schlagzeilen sorgten auch „Schulgebete“, die mit antisemitischen Gemeinplätzen begründet wurden: „Die deutsche Not findet ihre Ursache nur zum Teil in wirtschaftlicher Bedrängnis. Art- und volksfremde Kräfte versuchen seit langem, die geistig-sittlich-religiösen Grundlagen unseres deutschen Denkens und Fühlens zu zerstören, um das deutsche Volk zu entwurzeln und es so leichter beherrschen zu können.“ Als Fricks „größte rassenpolitische Tat“ wertete die radikale Rechte die per Ministerialbeschluss durchgesetzte Berufung des Rassekundlers Hans F.K. Günther („Rasse-Günther“) an die Thüringische Landesuniversität Jena.

Neben Frick profilierte sich der seit 1927 amtierende NSDAP-Gauleiter Fritz Sauckel als Fraktionsführer im Landtag zum antisemitischen Einpeitscher. Noch vor dem Nürnberger Kriegstribunal Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945 gab er offen zu, dass der Antisemitismus von Beginn an zu den Triebfedern seiner politischen Tätigkeit gehört habe: „Ich glaubte an eine Überfremdung in fast allen entscheidenden Stellungen, im gesamten öffentlichen Leben des deutschen Volkes und deshalb auch an einen zu großen und schädlichen Einfluß. Ebenso hielt ich eine Rassenvermischung nicht im Sinne der Natur liegend.“ 1931 führten die heftigen verbalen Attacken, denen sich die Bürgerparteien vor allem seitens Sauckels ausgesetzt sahen, zum Bruch der Koalititon. Das bürgerliche Minderheitenkabinett regierte mit Duldung der SPD noch bis Juli 1932, ehe das labile Zweckbündnis an den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zerbrach.

Von wachsender Popularität als die national-antimarxistische Integrationspartei beflügelt, gingen die Nationalsozialisten nunmehr auch im Thüringer Landtag aufs Ganze. Schon in der Debatte um den Misstrauensantrag gegen Frick 1931 hatte Sauckel gegenüber den einstigen Partnern prophezeit: „Wir kommen wieder, und über Ihre Parteileichname spaziert das deutsche Volk!“ Diese Prophezeiung sollte mit der Landtagswahl vom 31. Juli 1932 in Erfüllung gehen. Mit 42,5 % der Stimmen und 26 von 61 Abgeordnetensitzen hatte die NSDAP die Wahl eindeutig gewonnen. Am 26. August 1932 nahm die Regierung Sauckel ihre Geschäfte auf, mitgetragen vom Landbund durch einen Staatsrat. Die “vorgezogene Machtergreifung” in Thüringen ließ erahnen, was politischen und rassischen „Außenseitern“ bei einer Machtübernahme durch die NSDAP in Deutschland drohte. Schon in der Regierungserklärung vom 29. August 1932 hatte Sauckel darauf hingewiesen, dass die „Zeit schwerster politischer, kultureller und wirtschaftlicher Nöte“ nur durch die Errichtung „einer wahrhaften und sozialen Volks- und Schicksalsgemeinschaft“ überwunden werden könne, die nur die „wertvollen Kräfte in Rasse und Volkstum“ umfasst. Sofort wurden antisemitische Maßnahmen ergriffen, wie die Kürzung der Mittel für die Israelitische Kultusgemeinde, Erarbeitung neuer Lehrpläne zur „völkischen Erziehung”, ein „Tierschutzgesetz“ gegen jüdisches Schächten und sogar schon ein Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte im Dezember 1932.


Antisemitismus und Holocaust im Dritten Reich

Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 durch Reichspräsident Paul von Hindenburg begann der Prozess der „Machtergreifung“ in Deutschland. Er nahm in Thüringen aufgrund des erheblichen “Vorlaufs” die Gestalt eines relativ reibungslosen Übergangs zur NS-Diktatur an. Dabei war Hitlers “Muster-Gauleiter” Sauckel bemüht, weiter als „Vorreiter“ zu glänzen. Am 5. Mai 1933 vom Reichspräsidenten zum „Reichsstatthalter für Thüringen“ ernannt, baute er sich schrittweise eine starke Hausmacht auf. 1942 rückte er sogar in das Amt eines “Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz” auf, als der er die Deportation von Millionen Zwangsarbeitern organisierte.

Als „thüringischer Diktator“ lebte Sauckel seinen starken Judenhass seit 1933 voll aus. Im Gaugebiet wohnten vor der „Machtergreifung“ rund 4500 Juden in 37 Kultusgemeinden. War ihnen schon seit August 1932 von der NSDAP-Landesregierung mit diversen Diskriminierungsmaßnahmen das Leben schwer gemacht worden, galt es jetzt für Sauckel, sich weiter in der „Judenfrage“ hervorzutun. Die ihm seit der Nachkriegszeit verhasste Interessenvereinigung “Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens” (CV) wurde im März 1933 unter dem Vorwand, das deutsche Ansehen im Ausland zu schädigen, in Thüringen verboten, was für ein reichsweites Verbot als Vorbild diente. Für die „Arisierung“ von Vermögenswerten galt die Enteignung der Suhler Simson-Werke 1935 als früher Präzedenzfall, der international für Aufsehen sorgte. Bis 1939 war die thüringische Wirtschaft weitgehend “judenfrei”, besonders der Einzelhandel vom kleinen Laden bis hin zu den großen Kaufhäusern (Hertie in Gera, Kaufhaus Römischer Kaiser in Erfurt, Sachs & Berlowitz in Weimar u.v.a.) wurde demonstrativ “arisiert”.

Vom Judenboykott am 1. April 1933 über die Nürnberger Rassengesetze 1935, die Reichspogromnacht (“Reichskristallnacht”) vom 9. November 1938 bis hin zu den „Endlösungs“-Deportationen nach der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 zieht sich die Spur der Entrechtung und Vernichtung jüdischer Mitbürger. Trotz der alltäglichen Schikanen, entwürdigenden Rassegesetze, der Reichspogromnacht, der wirtschaftlich-sozialen Deklassierung, der Einweisung in “Judenhäuser” ab 1940 usw. hoffte etwa die Hälfte der Juden auf ein Überleben in ihrer Heimat Deutschland und nutzte nicht die bis Oktober 1941 bestehende, wenn auch mit zahlreichen Hindernissen und weitgehender Ausplünderung verbundene Möglichkeit der Auswanderung. Die meisten bezahlten dies mit ihrem Leben. Nach dem Ende der NS-Diktatur lebten noch ganze 400 jüdische Bürger in Thüringen.

Wohl am deutlichsten symbolisiert wird der verbrecherische Charakter der NS-Herrschaft im Konzentrationslager Buchenwald, ab 1937 eines der drei Großlager im Reich neben Dachau und Sachsenhausen. Buchenwald gehörte mit seinen starken SS-Verbänden für Sauckel mit zur Profilierung Thüringens als „Mustergau“. Nach der Reichspogromnacht 1938, während der auch in Thüringen Synagogen zerstört (Gotha, Eisenach, Meiningen, Nordhausen, Erfurt [siehe Abb.]), Geschäfte geplündert und jüdische Mitbürger misshandelt wurden, verschleppte man über 1000 von ihnen ins KZ oberhalb der Klassikerstadt. Dort mussten neben anderen Häftlingen und Kriegsgefangenen auch zehntausende Juden bis zum Ende der NS-Diktatur leiden, etwa 11.000 kamen dabei ums Leben. Besonders das Ende 1942 errichtete “kleine Lager” mit seinen katastrophalen Lebensbedingungen war unter den Häftlingen berüchtigt. Nach der Befreiung durch US-Truppen am 11. April 1945 sollte Buchenwald zum Synonym des nationalsozialistischen Mord- und Terrorortes in Deutschland werden.

Aber auch lokale Verantwortungsträger trieben die praktische Umsetzung des zur Staatsdoktrin des Dritten Reiches aufgerückten Antisemitismus voran. So trachtete etwa der Erfurter Oberbürgermeister Walter Kießling in Konkurrenz mit Gauleiter Sauckel in Weimar danach, seine Stadt besonders schnell “judenfrei” zu bekommen. Die radikale Judenverfolgung der NSDAP wurde dabei keineswegs allgemein begrüßt, wie Gestapoberichte für Thüringen belegen. Trotz tiefsitzender Vorurteile gerade im Kleinbürgertum gab es durchaus auch Ablehnung, zumal einige Juden bis 1933 in vielen Städten zur tonangebenden Honoratiorenschicht gehört hatten. Die schrittweise Entrechtung, Verfolgung und Deportation der Juden in die Vernichtungslager des Ostens während des Zweiten Weltkrieges 1939/45 geschah dennoch inmitten der Gesellschaft, ohne dass sich breiterer Widerstand gezeigt hätte. Dies gilt auch für die Beteiligung der Wirtschaft am Holocaust, wie sie vom Erfurter Krematorienbauer “Topf & Söhne”, Hersteller der Massenverbrennungsöfen in Auschwitz, verkörpert wird.


Antisemitismus heute

Der Holocaust bzw. die Shoa (hebräisch “Zerstörung”, “Katastrophe”), wie der Mord an sechs Millionen Juden von diesen selbst bezeichnet wird, ist eines der ungeheuerlichsten Verbrechen der Weltgeschichte. Die bis hin zum Berliner Holocaust-Denkmal manifestierte Anerkennung der moralischen Verantwortung durch die Bundesrepublik Deutschland bildet keineswegs, wie man lange glauben mochte, das Ende des Antisemitismus. Zu deutlich sind die jüngst etwa von Wolfgang Benz in ihrer weit zurückreichenden Kontinuitätslinie dargestellten Symptome eines wieder auflebenden Antisemitismus unserer Tage. Die zähe Überlebensfähigkeit einer in ihren aktuellen Manifestationen sich wandelnden Judenfeindschaft zwingen zu „Prävention und Prophylaxe“. Es gilt die Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren, dass der „neue“ Antisemitismus bereits wieder eine „Brückenfunktion zwischen der Mitte der Gesellschaft und dem Rechtsextremismus“ auszuüben beginnt.

Thüringen macht hierbei keine Ausnahme. Rechtsradikale Hetze und Anschläge auf jüdische Friedhöfe und Synagogen sind dabei nur die eine Seite. Zugleich geben sich viele Rechtsextremisten gutbürgerlich und verbreiten ihr rassistisches Gedankengut in scheinbar harmlosen Lokalzeitschriften oder gemeinnützigen Vereinen. Gerade in der historisch hochaufgeladenen „Mitte Deutschlands“ mit seiner einstigen Vorreiterrolle für den Antisemitismus gilt es durch vielfältige Erinnerungsarbeit einer fatalen „Wiederholung der Geschichte“ in neuem Gewand vorzubeugen.


(Abkürzungen: DDP = Deutsche Demokratische Partei, DNVP = Deutschnationale Volkspartei, DVP = Deutsche Volkspartei, KPD = Kommunistische Partei Deutschlands, NSDAP = Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, SPD = Sozialdemokratische Partei Deutschlands, USPD = Unabhängige SPD)


Text: Steffen Raßloff: Antisemitismus in Thüringen (Thüringen. Blätter zur Landeskunde 76). Erfurt 2008.


Lesetipp:

Steffen Raßloff: Antisemitismus auf parlamentarischer Bühne. Die "jüdische Frage" im Thüringer Landtag 1920-1933. In: Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen 26 (2007). S. 351-383.

Steffen Raßloff: Der "Mustergau" Thüringen zur Zeit des Nationalsozialismus. München 2014. (erscheint im November)